Geschichte

Der Wingolfsbund wurde 1844 in Schleiz (ehem. Fürstentum Reuß-Schleiz, heute Thüringen) gegründet. Bereits Anfang der 1840er-Jahre hatte es in einigen Universitätsstädten Gründungen von christlichen Studentenvereinen gegeben. In Bonn entstand 1841 die erste Wingolfsverbindung. Zum sog. Schleizer Konzil trafen sich Vertreter der Verbindungen aus Berlin, Halle (Saale) und Erlangen. Den Beschlüssen des Konzils stimmten die Bonner später zu. Der Bonner, Berliner, Hallenser und Erlanger Wingolf gelten deshalb als Gründungsverbindungen des Wingolfsbundes, trotzdem sich auch ihre Gestalt seit dem Treffen in Schleiz noch mehrmals stark veränderte.

Farben (Schwarz-Weiß-Gold), Wahlspruch und der Tagungsort auf der Wartburg in Eisenach wurden in den darauffolgenden Jahren festgelegt. Für die Stellung des Wingolfs an den Universitäten besonders wichtig war seine zeituntypische Ablehnung von Duell und Mensur aus christlicher Überzeugung.

Der Wingolfsbund ist der älteste Bund studentischer Verbindungen und zugleich die erste Korporation, die sich gegen Duell und Mensur wandte. Bis heute ist der Wingolf nichtschlagend.

Das lange 19. Jahrhundert

Die große Zahl an Neugründungen und die Vielfalt innerhalb des Wingolfsbundes erforderten in den Jahrzehnten bis 1900 immer wieder Reformen. Zur Leitung des Wingolfsbundes wurde auf den Wartburgfesten  – zunächst fortführend nach Alter der Verbindung – ein Vorort gewählt. Der Vorort organisiert bis heute die gemeinsame Beschlussfassung der Wingolfsverbindungen und das Wartburgfest.

Seit 1872 erscheinen die Wingolfsblätter, die Zeitschrift des Wingolfsbundes. Sie dienen dem Austausch unter den Verbindungen, dem Kontakt der ehemaligen Studenten (Philister) untereinander und der Diskussion. So erschienen über die Jahrzehnte immer wieder Beiträge, die auch über den Wingolf hinaus wegweisend für Verbindungswesen und Universitätslandschaft waren.

1901 schlossen sich die Philister (Alte Herren) der Verbindungen zum Verband Alter Wingolfiten (VAW) zusammen. Der VAW unterstützt den aktiven Wingolfsbund und führt die ehemaligen Studenten, die in den Philistervereinen ihrer Verbindungen organisiert sind, zusammen. Eine weitere Säule des Verbands Alter Wingolfiten sind die Bezirksverbände, in denen sich Wingolfiten nach ihrem Studium unabhängig von ihrer jeweiligen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Wingolfsverbindung zusammenschließen.

Inhaltlich war die Zeit bis zum 1. Weltkrieg durch teils heftige Prinzipienstreitigkeiten geprägt. So wurde mehrmals über die Interpretation des christlichen Prinzips (Christianum) gerungen. Typisch für Verbindungen, die zu jener Zeit vor allem von Studenten der Theologie geprägt waren, gab es dafür immer neuen Anlass. Bis in die Zeit des Nationalsozialismus hinein blieb der Wingolf eine stark durch die theologischen Fakultäten geprägte Verbindung, die meisten Wingolfiten studierten Theologie oder entstammten Pfarrhäusern.

Seit der Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 stand auch die nationale Frage stärker im Fokus der Diskussionen. Die Wingolfsverbindungen lehnten ein Vaterlandsprinzip ab, das sich gleichberechtigt neben das Christianum stellt. Die Wingolfiten des Kaiserreichs ließen sich jedoch von der allgemeinen Begeisterung für Kaiser und Reich unter den Studenten mitreißen.

Aus diesem Grund zogen viele Wingolfiten begeistert in den 1. Weltkrieg, aus dem viele von ihnen nicht wiederkehrten. Wingolfiten waren keinesfalls vor allem als Feldgeistliche eingesetzt, sondern zumeist als einfache Soldaten. Die verwehrte Satisfaktionsfähigkeit verhinderte häufig eine Offizierslaufbahn. Für Versehrte und Hinterbliebene richtete der Wingolf eine Kriegsstiftung ein.

Weimar und der Untergang

1919 – 1932

Zur ersten deutschen Demokratie hatten viele Wingolfiten ein gespaltenes Verhältnis. Ihre Haltung entsprach in weiten Teilen der der bürgerlich geprägten Studentenschaft. In den 1920er-Jahren musste darum das Verhältnis des Wingolf zum Staat und zur Politik allgemein geklärt werden, nationalistischen Einflüssen hat sich der Wingolf dabei nicht vollständig erwehren können.

Auf dem Wartburgfest 1922 wurden zum ersten Mal Turn- und Sportwettkämpfe durchgeführt. Bereits 1925 wurde ein dem Zeitgeist entsprechendes “Grenzlandamt” eingeführt, das den Kontakt zu den durch den Versailler Vertrag verlorenen Gebieten aufrecht erhalten sollte. 1930 musste der Wingolf das Tragen politischer Abzeichen auf seinen Veranstaltungen, insbesondere dem Wartburgfest, untersagen.

Zunehmend zeigte sich ein Generationenkonflikt zwischen aktiven und ehemaligen Studenten. Während die aktiven Wingolfsverbindungen sich zunehmend politisierten und der Weimarer Republik zunehmend kritisch gegenüber standen, fanden sich unter den Philistern durchaus auch kritische Stimmen.

Während der 1920-Jahre war der Wingolf an vierzig Universitäten vertreten, zur besseren Organisation des größer gewordenen Wingolfsbundes und zur Förderung des Kontakts zwischen aktiven und ehemaligen Studenten wurde das Amt des Generalsekretärs eingeführt. 1922 wirkte der Wingolf an der Verabschiedung des Erlanger Ehren- und Verbändeabkommens mit, das den nichtschlagenden Wingolf erstmals mit den schlagenden Verbindungen im Bezug auf die Satisfaktionsfähigkeit gleichstellte.

1933 – 1945

Die durch die Einsetzung Hitlers zum Reichskanzler einsetzende Welle der Gleichschaltung auch von Universität und Verbindungswesen, unterschätzten die Wingolfiten. Von 1933 an hatte ihr Handeln unter starkem Druck das Ziel, den Wingolf als christliche Studentenverbindung zu erhalten. Dabei wurden bis zur endgültigen Vertagung des Wingolfsbundes 1936 Fehler und allzu viele Kompromisse gemacht.

So führte der Wingolf gezwungener Maßen in seinen Verbindungen das Führerprinzip ein, für den gesamten Wingolf wurde der bisherige Generalsekretär Dr. Robert Rodenhauser zum Wingolfsführer ernannt.


Ebenso setzte der Wingolf in seinem Verbindungen wie gefordert die Bestimmungen des sog. “Arierparagraphen” um und schloss dreizehn Bundesbrüder jüdischer Herkunft aus. Diese Maßnahme verletzte das Lebensbundprinzip, nachdem man ein Leben lang zur Verbindung und zueinander steht, und die Forderungen des Christianums. Trotz vereinzelter Proteste wurde der Ausschluss vollzogen.

Während Rodenhauser mit der Umsetzung der zahlreichen Forderungen an den Wingolf beschäftigt war, wurde in den einzelnen Verbindungen immer klarer, dass eine Aufrechterhaltung des Verbindungsbetriebs nicht mehr möglich war. Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund (NSDStB) verbot seinen Anhängern die Mitgliedschaft in einer nicht im Verband organisierten Studentenverbindung. Da die NSDStB-Mitgliedschaft für neue Studenten obligatorisch wurde, brach den Wingolfsverbindungen schlicht der Nachwuchs weg.

Die Forderungen nationalsozialistischer Stellen kulminierten schließlich darin, den Wingolf in einem neuen nationalsozialistischen Verband aufgehen zu lassen, was mit der Einführung der Mensurpflicht einher gegangen wäre. An diesem Punkt, zu dem bereits zahlreiche Wingolfsverbindungen vertagt waren, löste sich der Wingolfsbund auf. 1938 folgte der Verband Alter Wingolfiten.

Waren die Wingolfiten – wie so viele Deutsche – blind oder einfach nur ignorant gegenüber den umwälzenden Veränderungen, die sich überall im Land und an den Universitäten in den Jahren 1933 und 1934 ereigneten? Den Blick auf den Untergang jenes Staates, der auch dem Wingolf sein Leben in freier Gestaltung ermöglichte, richteten nur wenige; zu sehr war der Wingolf mit der schwierigen Gestaltung seiner eigenen Zukunft im NS-Staat befasst. Eine solche Zukunft sollte es nicht geben.

Es waren schlussendlich nicht nur die vielfach von der, von den Nationalsozialisten inszenierten, “nationalen Erhebung” faszinierten jungen Studenten, sondern auch alte Wingolfiten, die den Mut  zu Widerstand und Prinzipienfestigkeit nie fanden.

Im Kirchenkampf innerhalb der evangelischen Kirchen fanden sich Wingolfiten, die wohl einmal Zimmer und Tisch geteilt hatten, sowohl auf Seiten der Deutschen Christen als auch in der Bekennenden Kirche. Seine geistige Prägekraft hatte der Wingolf da längst verloren.

An vielen Orten übten Wingolfiten auch widerständiges Verhalten im Kleinen. Heute erinnert der Wingolf zu jedem seiner Wartburgfeste auch an die Wingolfiten, die dem NS-Staat Widerstand leisteten, unter ihnen der Prediger von Buchenwald Paul Schneider. Persönlicher Widerstand und geleistete bundesbrüderliche Hilfe in schwerer Zeit sind heute Anlass zu dankbarer Erinnerung. Sie dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Wingolfsbund als Ganzes seinen christlichen Grundsätzen nicht gerecht geworden ist.

Neuanfang nach dem Krieg

Nach dem 2. Weltkrieg wurde klar, dass ein nahtloses Anschließen an die bereits zu diesem Zeitpunkt lange Wingolfsgeschichte nicht einfach möglich war. Die Stellung des Wingolfs zu den althergebrachten Formen des deutschen Couleurstudententums musste neu diskutiert werden. Der Wingolfsbund, bereits 1948 neugegründet, veränderte sich unter den neuen Bedingungen grundlegend.

Auf dem ersten Wartburgfest nach dem Krieg 1949 in Eltville wurden die des “Arierparagraphens” wegen ausgeschlossenen Bundesbrüder um Verzeihung gebeten. Diese Bitte wurde angenommen, wer noch am Leben und erreichbar war, kehrte in den Wingolfsbund zurück.

In der Sowjetischen Besatzungszone und später der DDR durften die ehemals großen Wingolfsverbindungen nicht neu entstehen. Stattdessen gründeten sich in der neuen BRD Wingolfsverbindungen an zahlreichen Hochschulen ohne Theologische Fakultäten. Der Wingolf wandelte sich zu einer durch das Zusammenleben von Studenten vieler unterschiedlicher Disziplinen geprägten Verbindung.

Gleichwohl der Wingolf auch nach dem 2. Weltkrieg an seinem christlichen Prinzip festhielt oder wieder zu ihm zurückkehrte, brachte die größere Interdisziplinarität und der Wandel an den Universitäten eine Abkehr von einer allzu strengen Auslegung der christlichen Sittlichkeit mit sich.

Zur Arbeit der Wingolfsverbindungen trat das Bemühen hinzu, sich gegenseitig zu lebendigem staatsbürgerlichem Interesse anzuhalten. Wingolfiten sollen als Christen und Akademiker ihre Verantwortung für die Gestaltung unserer Gesellschaft wahrnehmen.

Die Studentenrevolte Ende der 1960er-Jahre gegen überkommene Hierarchien und Traditionen an den Universitäten wurde zum Teil auch im Wingolf aufgenommen. So diskutierte der Wingolf Anfang der 1970er-Jahre ausgehend vom Göttinger Wingolf ein Reformprogramm, das u.a. eine Mitgliedschaft von Studentinnen vorsah. In der “Bielefelder Abmachung” von 1971 wurde geklärt, dass der Wingolf als Ganzes beim Grundsatz des Männerbundes bleibe. Impulse zur fortschreitenden Demokratisierung und kritischen Betrachtung mancher Traditionen hat der Wingolf ebenso wie die Universitäten aufgenommen.

Nach der Wiedervereinigung

Hielten die in der DDR lebenden Wingolfiten mit ihren Bundesbrüdern vor allem in den Jahren nach dem Mauerbau 1961 vielfach nur noch per Brief und auf vereinzelten Treffen Kontakt, so ergab sich nach dem Fall der Mauer endlich die Möglichkeit, alte Bande neu aufleben zu lassen.

Bald nach der Wiedervereinigung im Herbst 1990 stellte sich für den Wingolf die Frage, ob und wie er an die ostdeutschen Universitäten zurückkehren sollte. In den darauffolgenden Jahren gründeten sich die Wingolfsverbindungen in Jena, Rostock, Dresden, Leipzig und Halle (Saale) neu. Der Wingolf ist damit an Universitäten mit besonders alter und großer Wingolfstradition zurückgekehrt. Außerdem gründeten sich in Erfurt und Bremen neue Wingolfsverbindungen. Der Wingolfsbund umfasst gegenwärtig 35 Verbindungen, unter ihnen der Wingolf zu Wien und die Arminia Dorpatensis in Tartu (Estland).

Seit 1991 ist der Wingolf mit seinen Wartburgfesten wieder in Eisenach zu Gast und so auch zu seinen Wurzeln zurückgekehrt. Aller zwei Jahre feiern aktive und ehemalige Studenten in Eisenach ihr großes Bundesfest.