Wikipedia und Studentenverbindungen – ein Reizthema für beide Seiten

Wikipedia und Studentenverbindungen – ein Reizthema für beide Seiten

Wikipedia hasst Studentenverbindungen; Wikipedia liebt Studentenverbindungen. Das klingt widersprüchlich, ist es aber nicht. Denn erstens gibt es nicht „die“ Wikipedia, sondern nur eine äußerst heterogene Community, in der sich Vertreter beider Positionen finden. Und zweitens gibt es unter den langjährig engagierten Nutzern auch solche, die sich für wie gegen Artikel aus dem korporativen Umfeld aussprechen. Aber dazu später mehr.

Wie komplex die Welt der Online-Enzyklopädie ist, lässt sich mit etwas Fantasie beim Blick auf das offizielle Logo erahnen – eine Text-Bild-Komposition, bei der Puzzleteile mit Glyphen verschiedener Schriftsysteme eine unvollständige Weltkugel bilden. Plakativ spielt dieses Logo auf den stets unfertigen Charakter des Systems an, die Welt abzubilden.

Der Beitrag erschien im Original in den Wingolfsblättern 3/24 auf den Seiten 32–34. Autor ist Torsten Paßmann (Mch09 A17).

Dabei ist Wikipedia weitergekommen als jede andere Enzyklopädie in der Geschichte der Menschheit. Allein die deutschsprachige Version enthält mit Stand August 2024 etwas mehr als 2,9 Mio. Artikel und über den gesamten Bestand der +300 Sprachversionen hinweg sind es sogar über 62 Mio. Artikel. Diese massive Präsenz führt auch zu enormer Popularität: In der westlichen Hemisphäre gehört Wikipedia zu den beliebtesten Medienangeboten. In Deutschland platzierte sich wikipedia.org beispielsweise im Juni 2024 mit etwas über 300 Mio. Besuchern auf dem fünften Rang – als einzige nichtkommerzielle Website in den Top Ten.

Die große Reichweite weckt naturgemäß auch Begehrlichkeiten, das Medium für eigene Ziele zu instrumentalisieren. Heißt: sich selbst als Person, Unternehmen oder eben Studentenverbindung mit einem Artikel zu verewigen bzw. aufzuwerten.

Welt und Dorf gleichzeitig

An dieser Stelle schlägt aber ein anderer Aspekt zu, der sich aus dem Globus im Logo herauslesen lässt. Die Plattform ist nicht nur so groß und komplex, dass man auch nach Jahren aktiver Beteiligung immer noch unbekannte Ecken oder neue, hilfreiche Tools findet – diese Welt ist auch ein Dorf. Aus dem großen Reservoir von geschätzt etwa 90 bis 105 Millionen deutschen Muttersprachler weltweit begeistert sich nur ein überraschend kleiner Teil dazu, als angemeldeter Benutzer mit fünf oder mehr Bearbeitungen zur deutschsprachigen Version beizutragen: In den zwölf Monaten vor Erstellen dieses Beitrags lag der Durchschnitt etwa bei 6.000. Der ganz harte Kern mit 100 oder mehr Bearbeitungen pro Monat pendelt um 1.100.

Zwei Eigenschaften kennzeichnen diese Nutzer unabhängig von den jeweiligen thematischen Vorlieben. Erstens: Viele haben ihre Expertise über lange Zeit aufgebaut und kommen dabei teils auf 15 oder mehr Jahre an Engagement. Zweitens: Sie haben online wie auch bei Treffen im echten Leben ein belastbares Netzwerk aufgebaut, das sich auch ohne große Absprachen gegenseitig unterstützt. Begehen Wikipedia-Neulinge dann ohne Kenntnis der formalen und informellen Regeln oftmals kaum vermeidbare Anfängerfehler, stehen sie alleine einer Phalanx alter Hasen gegenüber und gehen in Diskussionen schnell unter. Letzteres ist im Januar 2023 beispielsweise dem Stuttgarter Wingolf passiert. Mit böser Zunge lässt sich die Community der deutschsprachigen Wikipedia mit einem Sandkasten vergleichen, in dem die schon länger dort aktiven Menschen sehr konkrete Vorstellungen vom „richtigen Spielen“ haben – und wo sich neue – vom teils rauem Ton – schnell verscheuchen lassen.

Grundsätzlich ein reichhaltiger Fundus

Um speziell mit der korporativen Brille auf Wikipedia zu schauen: Allein in der Kategorie „Studentisches Brauchtum und Ritual“ finden sich etwa 100 Artikel, etwa zur lokalen Göttinger Tradition des Bullerjahn oder Nischenthemen wie dem Corps- bzw. Couleurhund und dem Doctor cerevisiae. Auch das Knattern und das Schmollis sind verewigt, um nur beispielhaft ein paar randständige Themen zu nennen. Deutlich zahlreicher und wichtiger sind natürlich die Artikel über Corps, Burschenschaften und christliche Studentenverbindungen aller Dachverbände – ebenso wie u. a. über Coburger, Damen, Schweizer oder jüdische Verbindungen. Inklusive der Biographien Alter Herren gibt es deutlich mehr als 20.000 Artikel im Kategorienbaum Studentenverbindungen. Es ist ein reichhaltiger Fundus, in den man sich einlesen kann. Die Wikipedia – also die Gemeinschaft der Autoren – scheint Korporationen also zu lieben. Oder?

„Unliberale“ und „Couleurtaliban“

Vielleicht werden sie aber auch nicht geliebt, denn Studentenverbindungen waren einstmals privilegiert. Immerhin konnten prominente Mitglieder enzyklopädische Relevanz „abfärben“ – und aus praktischen Gründen gilt als prominent, wer einen Wikipedia-Artikel hat. Je älter eine Verbindung ist, desto mehr solcher Personen kommen naturgemäß zusammen, schließlich führte ein Studium in früheren Zeiten eher zu wichtigen Positionen in der Wissenschaft und Gesellschaft als heute. Mit zwei Meinungsbildern im Sommer 2012 und im Februar 2014 wurden die spezifischen Relevanzkriterien für Studentenverbindungen jedoch erst gekürzt und dann komplett geschleift. Seitdem sind die Kriterien für Vereine anzuwenden.

Das herrschende Klima zeigt sich dabei an Kommentaren, wo beispielsweise die Siegerseite der „Verbindungslobby“ unterstellte, mit „einer unglaublichen Dreistigkeit“ zu agieren. An anderer Stelle fiel auch einmal der Ausdruck „Couleurtaliban“. Die Befürworter hingegen reklamierten „Machtpolitik bei Wikipedia durch Unliberale“ – und selbige natürlich „rein ideologisch motiviert“. Losgelöst von solchen Scharmützeln war eine praktische Folge jedenfalls, dass im Nachgang zahlreiche bestehende Artikel auf den Prüfstand gestellt wurden.

Druck auf Artikel zu Verbindungen

Wie sich die neue Situation auf Artikel über Studentenverbindungen ausgewirkt hat, lässt sich schlaglichtartig an zwei Wingolfsverbindungen beleuchten, deren Gründung erst im 20. Jahrhundert erfolgte. Der 2008 über den Freiburger Wingolf angelegte Artikel rutschte im August 2015 mit der schlichten Begründung „Erfüllt nicht die Relevanzkriterien für Vereine“ in eine lange wie auch intensive Löschdiskussion. Pro Artikel argumentierten hier vor allem die Benutzer Gartenschläfer und Gleiberg, die „überzeugend die Tradition, Bedeutung und Außenwirkung der Verbindung dargelegt“ hätten, womit „die allgemeinen Relevanzkritierien für Vereine erfüllt“ seien, wie es in der Behaltensentscheidung heißt. Anders die Situation beim Wingolf zu Wien, dessen Artikel drei Löschdiskussionen (Juli 2005, November 2013 und Juni 2015) sowie eine Löschprüfung (Januar 2014) überstand, bis im Juni 2015 die zweite Löschprüfung das gewünschte Ergebnis brachte. Zwar lässt sich durch eine neuerliche Prüfung dieses Ergebnis auch wieder revidieren – allerdings gelingt das nur mit wesentlichen und neuen Argumenten. Bis dahin ist der Wingolf zu Wien in der deutschsprachigen Wikipedia kein Thema mehr.

Beim Stuttgarter Wingolf, der hier nur prototypisch steht, ging es im Januar 2023 indes schneller: Dort brauchte es nur einen Anlauf und eine Woche, bis der frisch angelegte Text wieder rausgekegelt wurde. Ein Musterbeispiel, wie man nicht argumentiert, lieferte dabei Benutzer JotGeKa. Schließlich habe er „nochmal gut zusammengefasst“, dass die Verbindung „völlig irrelevant nach unseren Kriterien“ sei, urteilte ein Diskutant. Besser lief es im Juni 2024 bei der knapp 200 Jahre alten Landsmannschaft Teutonia München, bei der sich sowohl wohlwollende Diskutanten als auch relevanzstiftende Fakten fanden. Letzteres können auch negative Medienberichte sein. Aber solche Artikel werden üblicherweise nicht aus dem Verbindungsumfeld angelegt, sondern von jenen, die sich sonst (mit teils hanebüchenen Beiträgen wie „und er ist Burschenschafter!“ bei einem biographischen Artikel) für das Löschen aussprechen.

Fazit

Im mittlerweile über 20 Jahre bestehenden Schatz an Wortmeldungen beider Seiten finden sich naturgemäß noch viele andere Zitate und Beispiele, um die teils verhärteten Fronten aufzuzeigen zwischen „Korpos“ und „Kritikern“. Wichtiger ist aber vielmehr die Erkenntnis, dass es sowohl genügend neutrale Autoren gibt, die sich unbefangen dem Thema nähern, als auch – trotz allem Gegenwind – weiterhin neue Beiträge erstellt werden und eingestellt bleiben können. Welche Chancen sich hier speziell aus wingolfitischer Sicht bieten, wird dann Thema eines weiteren Beitrags sein.

Bild (leicht beschnitten): Fawaz.tairou, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons

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Erklärung des Wingolf

Erklärung des Wingolf

Der WINGOLF ist ein Bund christlicher, überkonfessioneller und nichtschlagender Studentenverbindungen, der etwa 4.000 aktiv Studierende und Alte Herren vereint.

Der Wahlspruch des WINGOLF lautet „di henos panta“ – „Durch Einen Alles“.
Dieser Eine ist Jesus Christus mit seiner Botschaft der Liebe zu Gott und den Menschen. Die Achtung der Menschenwürde und der respektvolle Umgang miteinander sind das Fundament unseres Selbstverständnisses im
WINGOLF.

Offenheit zum Dialog mit allen, gerade auch mit politisch Andersdenkenden, ist ein Wesenskern des WINGOLF. Die Grenze bildet dabei unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung. Demokratiefeindliches Verhalten jeglicher Art dulden wir in unseren Reihen nicht.

Konkret fordern wir unsere Mitglieder im WINGOLF auf, als Christen klar und deutlich für unsere freiheitlich-demokratischen Werte Position zu beziehen. Wir verurteilen jegliche Form von Diskriminierung, Antisemitismus, Rassismus, Homophobie sowie völkisches oder anderes extremistisches Denken und Handeln. Dies hat bei uns keinen Platz und ist mit einer Mitgliedschaft im WINGOLF nicht vereinbar. Wer dem WINGOLF angehört, ist aufgefordert, derartigen Positionen entschieden entgegenzutreten.

 

Diese Erklärung wurde im Mai 2024 vom Vorstand des Wingolfsbundes sowie Vorstand und Philisterrat des Verbandes Alter Wingolfiten e.V. einstimmig verabschiedet.

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Zur 150-jährigen Geschichte der Wingolfsblätter (1949–1967)

Zur 150-jährigen Geschichte der Wingolfsblätter (1949–1967)

„Sie wollen keine Preßfreiheit, weil sie glauben, der Wind drehe sich nach der Wetterfahne“ – so spottete der Dichter und Journalist Ludwig Börne (1786–1837), einer der wichtigsten Vorkämpfer für Demokratie in Deutschland, einst über die Gegner der liberalen Bewegung. Mit diesen Worten spricht Börne, ein Dilemma an, dem sich jedes Medium, jeder Journalist immer wieder von Neuem stellen muss: Wind oder Wetterfahne?

In welchen Phasen ihrer Geschichte die Wingolfsblätter eher „Wind“ in welchen eher „Wetterfahne“ waren, dieser Frage soll – anschließend an die bisherigen Teile (1872–1918 in Wbl. 3/2023, S. 13–20; 1918–1938 in Wbl. 1/2024, S. 10–26) – auch im dritten Teil dieses Beitrags zur Geschichte der Wingolfsblätter nachgegangen werden.

Der Beitrag erschien im Original in den Wingolfsblättern 2/24 auf den Seiten 13–22. Autor ist Andreas Rode (Mz 88, Br 89, Mch 08). Die insgesamt 51 Fußnoten sind in der Onlinefassung nicht enthalten.

Er steht am Ende und am Beginn einer Ära des Wingolfs und der Wingolfsblätter: Dr. iur. Wilhelm Lütkemann (M 10, G 12 et al.). Als VAW-Vorsitzender hatte er die traurige Pflicht gehabt, den Wingolfsblättern das letzte Geleit zu geben. „Niemand wird uns schelten, daß der Abschied uns schmerzt, wie wenn wir den treuesten Freund ins Grab legten“, hatte er im September 1938 seinem „Nachruf“ geschrieben. Elf Jahre später, im November 1949, durfte er in Heft 1 der wiederbegründenden Wingolfsblätter Gott dafür danken, dass der Wingolf und mit ihm auch die Wingolfsblätter zu neuem Leben erwachten:

„ER hat es gewendet. In überraschend kurzer Zeit sind über ein Dutzend Wingolfsverbindungen wieder neu entstanden; sie haben in ihrem Zusammenschluß den Wingolfsbund wieder existent gemacht. Der Verband Alter Wingolfiten mit seinen Bezirksverbänden und die Philistervereine der einzelnen Verbindungen bestehen wieder in aller Form, und eine Wartburgtagung hat in der Pfingstwoche zu Eltville am Rhein Jung und Alt in Harmonie am Gesamtbau werken gesehen. Das Faktum ist also da. Gott hat es uns geschickt. Daß es ein Gutes werde, dafür haben wir nun zu sorgen, und da wir nichts ohne seinen Segen ausrichten können, setzen wir die Bitte darum als Überschrift über die erste Nummer unserer Wingolfsblätter.“

Aufbaujahre

Das Wiederauflebens des Wingolfs, das Lütkemann beschreibt, prägt die ersten Jahrgänge der neu entstandenen Wingolfsblätter. Als ein halbes Jahr nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland die erste Nachkriegsausgabe erschien, waren die Wingolfsverbindungen in Bonn, Darmstadt, Erlangen, Gießen, Göttingen, Heidelberg, Kiel, Marburg, Münster, Stuttgart und Tübingen bereits wiedergegründet. Als „ganz neue“ Wingolfsverbindungen existierten Braunschweig und Mainz sowie die Fraternitas Academica Hohenheim, deren Gründung unabhängig vom ehemaligen Hohenheimer Wingolf erfolgt war. Weitere Neu- und Wiedergründungen folgten, über die in den Wingolfsblättern freudig berichtet wurden.

Auch der Erwerb bzw. die Wiedererlangung der Verbindungshäuser war ein großes Thema: Davon zeugen zunächst kleine Anzeigen, wie diejenige aus dem Sommer 1951, in der es heißt: „Die frühere Satzung des Marburger Bauvereins wird in dem Verfahren betr. Wiedererwerb des Hauses dringend benötigt. Wer sie noch besitzt, sende sie sofort an …“ Im Verlauf der 1950er- und 1960er-Jahre folgen dann immer mehr Berichte über Hausbautätigkeiten, Wiedergewinnung von Wingolfshäusern und Hausweihen. Welchen Einsatz – sowohl an Arbeitskraft als auch an finanziellen Mitteln das forderte, lassen z. B. die Berichte über den Bau des Hauses in Darmstadt erahnen. Dieses war in den Jahren 1950 bis 1952 als erstes Wingolfshaus komplett neu errichtet worden. Das alte Haus hatte, wie die meisten Wingolfshäuser, in der Nazizeit erzwungenermaßen den Besitzer gewechselt. Doch an eine Rückforderung war nicht zu denken: „Sein derzeitiger Besitzer war schon vor dem Zusammenbruch wieder in der Lage, das Grundstück neu zu bebauen, was für uns insofern von Bedeutung wurde, als die Möglichkeit, einen Anspruch geltend zu machen, dadurch von vornherein entfiel“, heißt es in den Wingolfsbblättern. Mit vereinten Kräften wurde deshalb ein Grundstück erworben und von den Wingolfiten selbst von den Trümmern des zerbombten Vorgängerbaus freigeräumt. Dann erst konnte – ebenfalls größtenteils aus eigenen Kräften – die Errichtung eines Neubaus erfolgen.

Nicht weniger, wenn auch andere Schwierigkeiten brachten die Rückerstattungsverfahren mit sich. Im Mai 1955 dokumentieren die Wingolfsblätter den Rechtsstreit, an dessen Ende der Marburger Wingolf sein Haus zurückerhielt, und drucken die Urteilsbegründung des OLG Frankfurt/Main ab.

Ein Blick auf die in den Wingolfsblättern veröffentlichten Semesterberichte der einzelnen Wingolfsverbindungen offenbart auch in anderer Hinsicht einen Aufschwung: Die Zahl der Aktiven steigt kontinuierlich und die wirtschaftliche Lage bessert sich zunehmend. Ist anfangs fast durchgehend von beschränkten Räumlichkeiten, bescheidenen finanziellen Mitteln und behördlichen Behinderungen die Rede, werden bald schon die Stiftungsfeste üppiger und die Ausflüge häufiger – eine Entwicklung, die parallel zum ökonomischen Aufschwung der Bundesrepublik und den Jahren des „Wirtschaftswunders“ zu sehen ist. Auch die Berichte von Konventionen und Wartburgfesten – die damals noch immer in der Pfingstwoche von Dienstag bis Donnerstag stattfanden – spiegeln diesen Aufschwung. Neu ist dabei, dass Eisenach und die Wartburg nicht mehr zugänglich sind. Die Wartburgfeste finden daher an unterschiedlichen Orten statt – z. B. in Weilburg an der Lahn oder in Freudenstadt im Schwarzwald. In den Wingolfsblättern findet sich dann im Vorfeld neben den üblichen Informationen zum bevorstehenden Wartburgfest jeweils auch eine „touristische Werbung“ für die jeweilige Stadt.

Aufbau ist auch auf Verbandsebene erforderlich: Bei der Wartburgtagung in Eltville wird im Juni 1949 entschieden, die unter Zwang eingeleitete Liquidation des Verbandes Alter Wingolfiten (VAW) aufzuheben. In der Folge wurde – angelehnt an die alte Satzung – eine neue Satzung erarbeitet und in späteren Jahren immer wieder reformiert. Mit Beschluss des Wartburgphilistertages beim Wartburgfest in Siegen 1965 wurden zudem neben den Bezirksverbänden auch die Philistervereine Mitglieder des VAW. Über all diese strukturellen Veränderungen wird in den Wingolfsblättern debattiert, die Ergebnisse werden dokumentiert.

Was über all dieser Aufbruchsstimmung nicht in Vergessenheit geraten sollte: Diktatur und Krieg haben Millionen von Todesopfern gefordert. Andere haben in dieser Zeit schwere Verletzungen – physische wie psychische – davongetragen. Menschen werden vermisst, sind in Kriegsgefangenschaft, haben Familienangehörige und nahe Freunde verloren. Das alles betrifft auch den Wingolf und findet in den Wingolfsblättern seinen Niederschlag. Ein anrührendes Beispiel dafür ist der Artikel „Haus zerstört, Adresse unbekannt“ aus der Ausgabe vom Februar 1950. Lütkemann beschreibt hier die Schwierigkeiten, die sich mit der ersten Aussendung der Wingolfsblätter verbunden haben, und betont, dass „besonders der Brüder gedacht werden soll, die noch nicht erreichbar waren oder nicht mehr zu erreichen sind.“ Und weiter heißt es: „Unser Statistiker wird in langwieriger Arbeit ermitteln, wer gestorben, gefallen und durch den Krieg sonstwie umgekommen ist; ihre Zahl ist erschütternd groß! (…) In Ehren sollen auch alle die Angehörigen der Vollendeten gehalten werden, die wissen und bekunden, was der Wingolf ihrem Vater oder Bruder oder Mann oder Verlobten oder Sohn bedeutet hat, und die in seinem Namen an unserem Wiedererstehen Teil nahmen, unter Umständen sogar materielle Hilfe dazu leisteten.“

Ein ganz konkretes Beispiel dafür, welche Schicksale die Überlebenden belasten, wird von Lütkemann im November 1951 dokumentiert. Unter der Überschrift „Wie geht es unserem Rodenhauser?“ berichtet er, dass Rodenhausers Kriegsverletzung aus dem Ersten Weltkrieg inzwischen zu vollständiger Lähmung geführt hat. Nicht mehr arbeitsfähig hatten er und seine Frau bei Freunden im Sudetenland Aufnahme gefunden. Rodenhauser selbst hat Lütkemann – übermittelt durch seinen Sohn – von seinen Erlebnissen im Jahr 1945 berichtet: „Es folgte eine furchtbare Fluchtfahrt von 35 Tagen kreuz und quer durch die in Aufruhr befindliche Tschechoslowakei mit grauenhaften Erlebnissen und mit russischer Gefangenschaft. Ich verdanke die Rettung meines Lebens dem heldenmütigen Einsatz meiner Frau, die mich gelähmten, immer auf der Bahre liegenden Mann durch alle Schwierigkeiten und Gefahren unerschrocken hindurchlavierte.“

Rodenhausers Schicksal ist nur eines unter vielen, und viele haben sicherlich noch weitaus Schlimmeres erlitten. Dennoch gibt es eine Ahnung davon, mit welchen Erinnerungen und Erfahrungen die Wingolfiten jener Jahre belastet waren, auch und gerade die Aktiven, von denen nicht wenige an der Front und in Gefangenschaft Schreckliches erlebt hatten. Doch gerade der Verweis auf Rodenhauser, der als „Wingolfsführer“ den Arierparagraphen im Wingolf durchzusetzen hatte, lässt noch etwas anderes anklingen: Die Frage nach dem eigenen Schuldigwerden des Wingolfs und einzelner Wingolfiten und nach der Selbstverortung in der neuen Zeit. Auf diese beiden Aspekte soll in den nächsten Abschnitten eingegangen werden.

Ortsbestimmung

In einer Zeit, in der die Zeichen auf „Neuanfang“ stehen, ist es besonders wichtig, sich seiner selbst zu vergewissern und im Lichte früherer Erfahrungen – guter wie schlechter – nach dem eigenen Standort zu suchen. Solche Selbstverortung findet auch in den Wingolfsblättern statt. Angesichts der militärischen wie auch moralischen Katastrophe ist es, anders als 1918, dieses Mal keine Frage, dass der Wingolf als Ganzes sich rückhaltlos zur Demokratie und zum neu entstandenen Staatswesen bekennt. Dies wird weniger in dem einen großen programmatischen Artikel deutlich als vielmehr in dem Grundton, der bei den Beiträgen mitschwingt. Dr. Bernhard Dammermann (G 12, Gd 13), der in den 1950er-Jahren regelmäßig in den Wingolfsblättern publiziert, erinnert etwa unter der Überschrift „Student und Politik“ daran, dass „Partei“ vom lateinischen „pars“ komme. Davon ausgehend betont er, dass jede Partei nur Teil eines größeren Ganzen sei und daher niemals einen Absolutheitsanspruch für sich reklamieren können. Eine klare Absage an alles totalitäre Gedankengut! Vergleichbares lässt sich in den Wingolfsblättern immer wieder finden.

Angesichts dieses weitgehenden Grundkonsenses ist es ein echter Paukenschlag, als zu Anfang des Jahres 1962 unter der Überschrift „Gesellschaft ohne Gott und Kaiser“ ein längerer Artikel von Helmut Scheide (G 30, K 31, Bg 67) erscheint.9 Der Verfasser tritt deutlich für die Regierungsform der Monarchie ein und propagiert ein theologisch unterfüttertes „Gottesgnadentum“. Seine Thesen zusammenfassend schreibt er: „Die Lösung der Zeitprobleme fordert ein mutiges und frommes Geschlecht. Mögen die alten Autoritäten auch äußerlich zerbrochen sein, ihr Geist findet noch immer seine Bekenner. (…) In entscheidungsvollen Stunden wird man sich um die wenigen sammeln, die (…), stets dankbar für das Erbe der Väter auch des Geistes und der Haltung der Ahnen würdig leben wollen. Wer sich dem Zeitgeist und seinen Modetorheiten feige ergibt, ohne nach Recht und Gerechtigkeit zu fragen, wird nie ein freier Mann.“10 Dass die Redaktion der Wingolfsblätter unter Schriftleiter Erich Warmers (E 47, M 48, Ft 55) diesen monarchistisch geprägten Beitrag eher als Debattenbeitrag verstanden wissen wollte, zeigt sich darin, dass direkt im Anschluss an den zitierten Artikel Scheides im selben Heft Dr. Adolf Quast (G 29, Bg 49) unter der Überschrift „Korporation und Demokratie“ eine gänzlich andere, entschieden demokratische Position vertritt.

Das Echo, das Scheides Artikel hervorruft, ist jedenfalls beachtlich. Selten dürften die Wingolfsblätter so viele Leserzuschriften gehabt haben. Die Stellungnahmen im Folgeheft umfassen nicht weniger als zwölf Seiten. In einer einzigen Leserzuschrift wird Zustimmung bekundet, der Rest widerspricht Scheide vehement. Der Tübinger Wingolf gibt in seiner Stellungnahme sogar zu Protokoll: „Der Convent des Tübinger Wingolf distanziert sich von dem Artikel Gesellschaft ohne Gott und Kaiser‘ in Heft 1/62 der Wingolfsblätter (…) Der Tübinger Wingolf erkennt das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und die Verpflichtung, sich für die Wahrung und Förderung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung einzusetzen, als für sich verbindlich an. Dieser Beschluß wurde bei einer Enthaltung ohne Gegenstimme gefaßt.“ Weitere Leserzuschriften sowie eine – eher apologetische Stellungnahme – von Scheide selbst folgen in Heft 3.

Ein wichtiges Thema sind in diesen Jahren auch die Kritik weiter gesellschaftlicher Kreise, die den studentischen Korporationen unter den neuen politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten das Existenzrecht absprechen wollen. Gegen den Vorwurf des Anachronismus betont man in den Wingolfsblättern unter anderem, dass gerade Aspekte wie Zusammenhalt, brüderliches Füreinandereinstehen und nicht zuletzt das althergebrachte demokratische Konventsprinzip sehr wohl in die Zeit passen. Über die Jahre wird es immer wieder nötig, dass der Wingolf sich gegen solche Kritik von außen zur Wehr setzt. Prominentestes Beispiel ist aber sicherlich die bereits zu Beginn des Jahres 1950 erfolgte Auseinandersetzung mit der Position von Bundespräsident Theodor Heuß, der sich wiederholt skeptisch bis abwehrend zum Wiedererstehen der Korporationen äußert. Die Wingolfsblätter dokumentieren dazu eine Ansprache, die Heuß im Dezember 1949 an der Heidelberger Universität hält. Antworten unter anderem vom VAW-Vorsitzenden Lütkemann und vom Bundes-x Heinz Miederer (E 48, Hg 50) sind im gleichen Heft abgedruckt. Das Thema wird den Wingolf (wie die Verbindungen insgesamt) von nun an begleiten. Immerhin eins bewirkt die starke Kritik von außen: Die Korporationsverbände grenzen sich nicht mehr so sehr voneinander ab. Statt Arroganz und Dünkelhaftigkeit herrscht nur ein ernsthaftes Interesse an Zusammenarbeit vor, das im Convent deutscher Korporationsverbände (CDK) und im Convent deutscher Akademikerverbände (CDA) seinen organisatorischen Niederschlag findet. Berichte von dieser Zusammenarbeit und Informationen aus dem Leben anderer Dachverbände nehmen in den Wingolfsblättern jener Jahre einigen Raum ein.

Während in der oben skizzierten Frage nach der Existenzberechtigung studentischer Korporationen innerhalb des Wingolfs Einigkeit herrscht, gibt es deutlich unterschiedliche Ansichten zu Fragen des Comments. Kristallisationspunkt ist hier vor allem die Frage des Couleurtragens in der Öffentlichkeit. Abgesehen davon, dass eine Genehmigung der Behörden keineswegs selbstverständlich ist, stehen hier die Meinungen gegeneinander. Die Debatte lässt sich in den Wingolfsblättern über viele Jahre nachverfolgen: Bereits 1952 vermerkt z. B. Prof. Dr. H. G. Bluth (Gd 19, G 20) unter Bezugnahme auf einen zwei Ausgaben zuvor erschienenen Artikel von Dammermann: „Wir können nicht mehr (…) Form und Inhalt des Wingolfsgedankens problemlos nebeneinanderstellen.“ Die Debatte um studentische Symbolik wie Couleur, Vollwichs und Burschenfeier wird über die folgenden Jahre nicht abebben und 1968 einen neuen Höhepunkt erleben. Doch scheint die Mehrheit der Wingolfiten ihre Freude an den farbenfrohen äußeren Zeichen ihres Bundes zu haben. So ist es denn auch kein Wunder, wenn wiederholt mit unverkennbarer Freude Meldungen wie diese veröffentlicht werden: Anfang Februar 1967 „beschloß der Senat der Westfälischen Wilhelm-Universität, einem Antrag der farbentragenden Verbindungen entsprechend, bei bestimmten Anlässen innerhalb des Universitätsbereiches das bislang verbotene Farbentragen zu gestatten.“

Nebenbei bemerkt: Bis zur Mitte der 1960er-Jahre saßen auch noch viele Korporierte in den Studentenparlamenten und dem einen oder anderen AStA. Und so ist es auch nicht allzu verwunderlich, wenn man in den Wingolfsblättern lesen kann, dass das Studentenparlament Gießen „das Verbot des Farbentragens für eine unangemessene, unbefriedigende und unberechtigte Form der Auseinandersetzung“ hält.

Themen der Zeit

Der Wingolf sucht jedoch auch über die „typisch korporativen“ Fragen hinaus seine Position. Zu vielen religiösen, politischen und kulturellen Themen ist in den Wingolfsblättern etwas zu lesen. An dieser Stelle kann dies aus Platzgründen nur kursorisch mit kurzen Beispielen angerissen werden. Eher selten geht es um Technisches wie bei dem Artikel „Elektronenrechner als Bibliothekar“.

Was viele Wingolfiten beschäftigte, waren politische Fragen. So setzt sich etwa Dr. Ulrich Schneider (Bo 48) kritisch, aber nicht ohne Wohlwollen mit dem „Verhältnis der Korporationen zur SPD und zum SDS“ auseinander. Ein wichtiges Thema ist dabei der Blick die DDR und die ehemals deutschen Gebiete weiter im Osten. Hier treffen sich sowohl das politische Interesse als auch die ehrliche Sorge um konkrete Personen. Nahezu jeder hat Verwandte, Freunde oder eben Wingolfsbrüder, die betroffen sind. Ein Beitrag wie der Artikel „Wie lange gibt es noch den deutschen Osten?“ von Dr. Hans Hermann Schepermann (Bo 48) mag hier als Beispiel dienen.

Die Auseinandersetzung mit der „SBZ“, der „Sowjetischen Besatzungszone“, und später der DDR erfolgte aber nicht nur theoretisch. Die Wingolfiten wurden auch ganz praktisch tätig, was sich in den Wingolfsblättern spiegelte. Der bundesbrüderliche Zusammenhalt wirkte auch über die innerdeutsche Grenze hinweg und wiederholt wurde mit großem Erfolg zur „Osthilfesammlung“ des Wingolfs aufgerufen. Für solche konkrete Hilfe und noch mehr dafür, dass sie bei den Bundesbrüdern nicht in Vergessenheit geraten waren, gab es auch herzliche Danksagungen der Betroffenen in den Wingolfsblättern. Allerdings – und das führt die Besonderheit der Situation in anrührender Weise vor Augen – aus Furcht vor Repressionen nur anonym. So ist etwa im März 1955 unter der Überschrift „Ein Gruß aus dem Osten“ in den Wingolfsblättern zu lesen: „Hochverehrter, lieber Konphilister. Die unterzeichneten Wingolfsphilister aus … und Umgebung grüßen von einem schönen, einzigschönen Beisammensein bei Kph. … Dich und den ganzen Wingolfsbund von ganzem Herzen. Ich sende diesen Gruß zur Vorsicht aus Berlin ab. – Mehrere waren im Sommer in Westdeutschland, alle aber durch Aufenthalt bei Verwandten so gebunden, daß die Aufnahme neuer Verbindung mit dem Bund meist nicht gelang. Wir vergessen Euch nicht, dafür ist in vieler Hinsicht gesorgt.“ Nirgendwo in dem Abdruck wird ein Name genannt, stattdessen endet der Brief nur mit den Worten „Mit herzlichen und sehnsuchtsvollen Grüßen – 16 Unterschriften“. Immerhin: Noch waren Westreisen möglich. Wenige Jahre später sollte sich auch das ändern. „Mögen die Bande zwischen uns und Euch, je länger Deutschland geteilt bleibt, desto enger werden – und nicht loser. Die Zeiten rufen nach Beweisen erfinderischer Liebe und Verbundenheit.“ Unter den sich verschärfenden Bedingungen, wurde es schwierig, diesen Wunsch der „Ostphilister“ zu erfüllen.

Im Mai 1961 fragt Karl Kromphardt mit Blick auf die beiden deutschen Staaten: „Ist Koexistenz möglich?“ und gibt in dem nachfolgenden Artikel eine eher skeptische Antwort, aber auch er hat sicherlich nicht damit gerechnet, dass bereits wenige Monate später eine Mauer quer durch Berlin gebaut werden würde. In der ersten Hälfte der 1960er-Jahre ist überraschenderweise kaum etwas über den Mauerbau selbst in den Wingolfsblättern zu lesen. Möglicherweise hat man es angesichts der Prominenz des Themas in den allgemeinen Medien nicht für nötig gehalten, auch in den Wingolfsblättern ausführlich darüber zu debattieren. Hier spiegelte sich eher die direkte Hilfe und konkrete Verbundenheit, so etwa in den Anzeigen, in denen Werner Foerster-Baldenius v/o Foenius (Ch 19 et al.) um Unterstützungsgüter warb, die er auf seinen nicht ganz ungefährlichen Reisen den Conphilistern in der DDR überbringen konnte oder in den Berichten über die viele Jahre lang von der Clausthaler Wingolfsverbindung Catena ausgerichteten Ferienfreizeiten für Berliner Kinder.

Immer wieder neu hinterfragt wird, welche Position man als Christ zu Krieg und militärischer Rüstung einnehmen solle. Mit der Wiederbewaffnung Deutschlands setzen sich zu Beginn des Jahres 1957 gleich mehrere Beiträge auseinander. Ein Jahr später beziehen Dr. C. G. Schweitzer (H 10) und Ernst Wilm (H 21) unter der Überschrift „Muß und darf die Atomwaffe die Christen spalten?“ unterschiedliche Positionen zur Frage der nuklearen Bewaffnung im Ost-West-Konflikt.

Theologische Fragen spiele eine deutlich geringere Rolle als in früheren Zeiten, was vor allem daran liegen dürfte, dass der Anteil von Theologen im Wingolf gegenüber der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich gesunken ist. An der christlichen Selbstverortung des Wingolfs ändert das jedoch nichts, sie nach wie vor überall zu spüren. In einer Hinsicht hat die Auseinandersetzung mit Religionsfragen allerdings zugenommen: Da inzwischen mehr Katholiken ihren Weg in den Wingolf gefunden haben, wird nun auch öfter gelebte Überkonfessionalität angemahnt. Besonders prägnant wird dies deutlich, als der Kölner Wingolf sich 1961 mit einem Bundesantrag gegen das Singen von „Ein feste Burg ist unser Gott“ bei der Ernsten Feier des Wartburgfestes auflehnt und dieses Lied in den Wingolfsblättern als „Kampflied der Reformation“ bezeichnet. Auf diese – zugegebenermaßen etwas polemische Zuschreibung erntet er in den beiden Folgeheften vehementen Protest einiger evangelischer Theologen.

So weit ein kurzer Überblick über die Themen, mit denen sich die Wingolfsblätter bis 1967 beschäftigten. Dass dieser unvollständig bleiben muss, liegt angesichts der Fülle des Materials auf der Hand. Ein besonders wichtiges Thema wurde bisher jedoch allenfalls am Rande berührt: Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Wie stellten sich die Wingolfsblätter in jenen Jahren zu der Frage des Schuldigwerdens in der Zeit des Nationalsozialismus? Darauf soll im folgenden Abschnitt ausführlicher eingegangen werden.

Auseinandersetzung mit der Vergangenheit

Die erste Ausgabe der wieder erstandenen Wingolfsblätter ist zum großen Teil eine Dokumentation der Wartburgtagung, die vom 7. bis zum 9. Juni 1949 in Eltville am Rhein stattfand. In der Ernsten Feier setzt Pfarrer Willi Merten (M 18, Bo 19, Mz 49) bereits einige der Schwerpunkte, welche die Zeitschrift in den folgenden Jahren prägen werden. Er predigt über ein Wort aus dem Buch des Propheten Sacharja (4,60): „Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr Zebaoth.“

Merten interpretiert diesen Bibelvers als „ein Wort des Gerichts und zugleich ein Wort der Verheißung“. Dabei zieht er eine Parallele zur Gegenwart: „Heer und Kraft – Gott hat sie uns gründlich zerschlagen, er zerschlug unsre Städte, er verbrannte unsre Habe, er legte unser Volk in den Staub. In Strömen von Blut versanken Hochmut und sich selbst erhöhender Stolz, ertranken auf Macht und Gewalt gestützte Welteroberungspläne, schwanden die auf eigene Kraft trauenden Hoffnungen hin.“ Merten verweist auf die Toten des Wingolfs, er gedenkt „der Brüder aus unserer Mitte, die draußen auf den Schlachtfeldern fielen und derer, die – wie ein Paul Schneider – unter Henkershänden ihr Leben gelassen haben.“ Und voll Demut bekennt er: „Es ist nicht unser Verdienst, daß wir noch einmal neu anfangen dürfen. Es ist vielmehr ein Wunder vor unseren Augen und Gnade von Gott.“

Damit ist zunächst einmal der Ton für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gesetzt. Wie aber positionieren sich die Wingolfsblätter in den Folgejahren zu dieser Frage?

Im Februar 1950 drücken die Wingolfsblätter eine Rede des Bundes-x Heinz Miederer (E 48, Hg 50) ab, in der es heißt: „Daß der Wingolf mit einem überspitzten und falsch verstandenen Nationalismus nichts zu tun haben will, hat er klar und eindeutig bewiesen. Wir sind nicht mitgegangen, als das Pendel nach der einen Seite ausschlug, wir gehen auch nach der anderen Seite nicht mit.“

Dem heutigen Leser mögen angesichts dieser selbstsicheren Aussage Zweifel kommen. Einige der in der vorherigen Folge dieses Beitrags zur Geschichte der Wingolfsblätter zitierten Artikel aus den 1920er- und 1930er-Jahren sprechen doch eine andere Sprache. So eindeutig allem „überspitzten und falsch verstandenen Nationalismus“ abhold, wie Miederer es gerne sehen möchte, war der Wingolf in den 1920er- und 30er-Jahren sicherlich nicht gewesen. Eins jedoch lässt sich nicht bestreiten: Der Wingolf nach 1945 verabschiedet sich dezidiert von der früheren Art des „Hurrapatriotismus“. Oder, wie Dr. Rudolf Erkmann (Hg 25) es unter der Überschrift „Über unsere Vaterlandsliebe heute“ formuliert: „Vaterlandsliebe wird auf den Bannern des Wingolfs stehen, solange sie wehen. Aber es wird eine ganz andere sein müssen als die, die noch wir gepflegt. Sie sollte zunächst möglichst wenig Sache des Feierns sein, denn in seinem Rahmen ist sie am ersten in Gefahr, zum unfruchtbaren Rausch zu verflammen. Sie sollte ganz in die innere Linie der Verbindungsarbeit verlegt werden. Man sollte ihr dienen nicht mit dem Wort der Männer, die Deutschland gepriesen, sondern derer, die Deutschland auf sorgendem Herzen getragen haben.“

Ganz unumstritten war diese Position allerdings nicht. Bereits in der nächsten Folge erwidert Dr. Helmut Wohlfarth (Hg 24): „Ich glaube, es war eine echte Begeisterung, keine Gefühlswallung.“ Auf die Begeisterung in der Vaterlandsliebe zu verzichten, würde – so fürchtet er – die Gefahr mit sich bringen, „in eine noch sinnlosere Entleerung aller Werte zu geraten und die letzten Dämme zu beseitigen“.

Dass die Wingolfiten sich durchweg zum neuen, demokratischen Staatswesen bekannten, wurde oben bereits skizziert. Anders als in anderen Korporationsverbänden wurde es auch niemals ernsthaft in den Wingolfsblättern gefordert, dass man Deutscher sein müsse, um Wingolfit zu sein. Die gemeinsame Basis war das christliche Bekenntnis, nicht die Volkszugehörigkeit. Es bleibt jedoch die Frage, ob und inwieweit man sich der Vergangenheit – und zwar auch und vor allem ihren dunklen Seiten – stellte.

Der selbstkritische Blick und das Eingestehen von Schuld sind nie einfach. Oft braucht es den zeitlichen Abstand. Das war in der gesamten Gesellschaft der damaligen Bundesrepublik so und im Wingolf war es nicht anders. Ein erster Wendepunkt ist sicherlich das Heft 5 des Jahres 1954, in dem – leider ohne Nennung des Verfassers – unter der Überschrift „20. Juli“ die Vaterlandspauke abgedruckt ist, die auf dem Stiftungsfest des Hannoverschen Wingolfs gehalten wurde. In einer Zeit, in der manch einer in den Hitler-Attentätern vom 20. Juli 1944 noch Verräter sah, die ihren Eid gebrochen hatten, sprach der Hannoversche Redner von der „heiligen Verpflichtung, die uns das Erbe der Geschwister Scholl und ihrer Freunde und die Tat der Männer des 20. Juli 1944 in dieser Zeit und in der Gestaltung unseres Staatswesens auferlegt.“

Dass die Schriftleitung der Wingolfsblätter diese Überzeugung aus tiefster Seele teilt, zeigt sich darin, dass sie im März 1955 zwei Beiträge von Prof. Dr. Hans Rothfels abdruckt: Im März 1955 erscheint der Artikel „Wie stehen wir zur Geschichte?“, im Januar 1956 der Artikel „Zehn Jahre danach“, der sich mit dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Deutschlands im Mai 1945 beschäftigt. Hans Rothfels ist nicht irgendjemand: Er gilt als einer der renommiertesten Historiker und Begründer der modernen deutschen Zeitgeschichtsforschung. Seiner jüdischen Abstammung wegen wurde ihm 1934 sein Königsberger Lehrstuhl entzogen, nach kurzzeitiger Verhaftung im November 1938 gelang ihm 1939 die Emigration nach Großbritannien und von dort in die USA. 1951 kehrte er nach Deutschland zurück und übernahm eine Professur an der Universität Tübingen. Sein zuerst 1948 auf Englisch erschienenes Werk „Die deutsche Opposition gegen Hitler“ ist die erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem deutschen Widerstand. Mehrfach überarbeitet und erweitert galt sie jahrzehntelang als Standardwerk zu diesem Thema. Dass die Wingolfsblätter Hans Rothfels in den 1950er-Jahren einen so breiten Raum geben, ist sicherlich als ein sehr bewusstes Bekenntnis zu werten.

Im Januar 1957 erscheint erstmals eine ausführliche Würdigung des im Konzentrationslager Buchenwald ermordeten Wingolfiten Paul Schneider in den Wingolfsblättern. In Heft 4 desselben Jahres mahnte Hans Christhard Mahrenholz (G NStft 47, Hv NStft 52) unter der Überschrift „Der Wingolf wird vergeßlich“ eine intensivere Beschäftigung mit der jüngsten Vergangenheit, insbesondere mit der Durchsetzung des „Arierparagraphen“ an. Darüber empört sich zwei Hefte später Dr. Ernst August Lührs (Fr 19, G 20 et al.). Seiner Ansicht nach ist über die Vergangenheit genug gehandelt worden. Er schreibt u. a.: „Auch hier die Frage: cui bono?, wenn an Dinge gerührt wird, die endlich begraben sein sollten. ‚Arisierung des Wingolfs‘, sie liegt fast 25 Jahre und noch weiter zurück.“ Und einige Zeilen weiter schreibt Lührs: „Darum laßt ab von diesen Fragen. Wir können als Bund weder zum Hitlerstaat noch zu seinen einzelnen Problemen, wozu auch der 20.7.1944 gehört, irgendeine Stellung beziehen. Das ist Sache jedes einzelnen Bruders ganz für sich. Wir sollen und müssen da um der Brüder willen neutral und tolerant sein und bleiben.“ Dass eine solche Position keineswegs Mehrheitsmeinung im Wingolf ist zeigen die zahlreichen Zuschriften im Folgeheft, die alle betonen, wie wichtig die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit für den Wingolf sei.

Die Schriftleitung scheint das ähnlich zu sehen. Im selben Heft erscheint nämlich an erster Stelle ein Artikel des Journalisten Karl Marx, der nach der Rückkehr aus der Emigration als einer der Wiederbegründer der jüdischen Presse in Deutschland, gilt. Unter der Überschrift „Die neue Toleranz in Deutschland – Hat der Antisemitismus noch eine Chance?“ heißt es dort: „Ich stehe deshalb hinter dieser These von der Kollektivscham, die ja, im Gegensatz zur Kollektivschuld-These, keine Tatsache an sich wäre, unabhängig von der subjektiven Einstellung des einzelnen, sondern eine moralische Errungenschaft.“ Dem Artikel von Marx folgt ein zweiter, wingolfsspezifischer Beitrag mit der Überschrift „Wie kam es 1933 zur Forderung des Abstammungsnachweiseses im Wingolf? Wer trägt die Verantwortung dafür?“ In der Einleitung zu dem Beitrag heißt es:

„Die Zeit scheint uns reif zu sein, die Spalten der Wingolfsblätter obigem Thema zu öffnen. Es sind immerhin fast zehn Jahre ins Land gegangen, seit der Wingolf wieder auf dem Plan ist. Die praktischen Folgen jener Maßnahme sind längst beseitigt, nachdem die Bbr., die von der Lösungsweisung betroffen wurden, unsers Wissens alle in einer Haltung zu uns wiedergekommen sind, die Zeugnis dafür gibt, daß die wingolfitische Glaubensgemeinschaft doch gehalten hat. Sein Schuldbekenntnis hat der Wingolf als erste offizielle Erklärung bei der ersten Bundesveranstaltung nach dem Kriege in Marburg im Jahr 1948 gesprochen. Damals gab es die Wingolfsblätter noch nicht wieder; deshalb ist diese historische Tatsache nicht allgemein bekannt geworden. Nun ist die Frage erhoben, wieso denn jene unchristliche und unwingolfitische Maßnahme in unserer Gemeinschaft überhaupt geschehen konnte (…) und es ist Kritik am innersten Wesen des damaligen Wingolfs laut geworden (…). Wir haben daher den Historiographen des Wingolfs Dr. Dammermann (G 12, Gd 13) und den damaligen VAW-Vorsitzenden Dr. Lütkemann (M 10, G 12) gebeten, sich zu den einschlägigen Fragen zu äußern.“

Dammermann und Lütkemann geben nun eine sehr ausführliche und fundierte Stellungnahme ab. Darin schildern sie auch die Gewissenskonflikte, in denen sich Lütkemann selbst und vor allem Rodenhauser befunden hatten.

Manch andere Auseinandersetzung um die Vergangenheit lässt sich nur dann wahrnehmen, wenn man ein wenig zwischen den Zeilen liest: Im Januar 1958 bestellt der Geschäftsführende Ausschuss (der später Philisterrat heißt) erstmals wieder einen Generalsekretär. Die Wahl fällt auf Gerhard Mähner (Mch 29, E 53). Was dabei – zumindest in den Wingolfsblättern – an keiner Stelle erwähnt wird, ist die Tatsache, dass Mähner sich als junger Aktiver früh den Nationalsozialisten angeschlossen hatte und dann als Funktionär in der Reichsleitung des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes (NSDStB) massiv zur Gleichschaltung und schließlich zum Ende der studentischen Korporationen beigetragen hatte. Bekannt gewesen sein dürfte dies im Wingolf schon. Hugo Menze betont allerdings in der „Geschichte des Wingolfs“: „Doch inzwischen hatte Mähner, was die wenigsten wußten, die politische Verirrung seiner Jugend bereut, und er sah nun im neuerlichen Dienst am Wingolf eine selbstgewählte persönliche Wiedergutmachung.“ In der 2013 erschienenen Festschrift zum 100-jährigen Bestehen des Freiburger Wingolfs heißt es hingegen, Mähner habe zurücktreten müssen, „nachdem seine Vergangenheit im Nationalsozialismus bekannt wurde und ein Versuch, diese mit der Freiburger Aktivitas zu diskutieren, nicht zur Beruhigung der Gemüter beitrug.“ Ein solcher erzwungener Rücktritt ist zumindest aus den Veröffentlichungen in den Wingolfsblättern nicht zu ersehen. Dort wird die nationalsozialistische Vergangenheit Mähners nur einmal zum Thema: in dem im Januar 1959 erschienenen „Dichterwettstreit“.

Dieser „Dichterwettstreit“ ist in gewisser Weise symptomatisch für den Umgang des Wingolfs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in den 1950er- und der ersten Hälfte der 1960er-Jahre: Der Wingolf hat eingestanden, dass sowohl die Deutschen insgesamt als auch der Wingolf selbst Schuld auf sich geladen haben. Seine für die damalige Zeit durchaus beachtenswerte Art, mit der Schuld umzugehen, blieb naturgemäß nicht ohne Widerspruch, wurde aber von einer breiten Mehrheit der Wingolfiten getragen.

Schwieriger war es, wenn es persönlich wurde: Der Wingolf hat in seinen Reihen Täter, Mitläufer und Opfer des Nationalsozialismus gehabt. Die meisten Wingolfiten, die diese Zeit erlebt hatten, dürften alles zugleich gewesen sein – denn jeder Mensch hat seine mutigen und seine weniger mutigen, seine klarsichtigen und seine weniger klarsichtigen Momente im Leben. Nun saß man wieder gemeinsam bei Veranstaltungen, diskutierte und feierte. Man half zusammen, um Neues aufzubauen. Junge und ältere Bundesbrüder kamen über vieles ins Gespräch, auch über die Zeit des Nationalsozialismus. Aber dies geschah sozusagen auf einer „allgemeinen Ebene“. Denn würde man als jüngerer Wingolfit an der Kneiptafel sein – möglicherweise durchaus geschätztes – Gegenüber nach dessen persönlicher Schuld im Nationalsozialismus befragen? Und würde der ältere so ganz nebenbei über seine inneren Verletzungen, seine Gewissenskonflikte und gegebenenfalls auch über sein Versagen plaudern? Über die Albträume, die in der Nacht die schrecklichen Dinge, die er erlebt hat, wieder an die Oberfläche holen?

Es braucht einen größeren zeitlichen Abstand, bis eine neue Generation beginnt, einzelne Personen und ihre Haltung im Nationalsozialismus in den Blick zu nehmen – das ist im Wingolf nicht anders als in der deutschen Gesellschaft insgesamt. Auch in dieser Hinsicht sind der Wingolf und die Wingolfsblätter Kinder ihrer Zeit. Ob es gelingt, diese Auseinandersetzung ehrlich – ohne Selbstbetrug, aber auch ohne falsche Überheblichkeit – zu führen, wird eines der Themen in der nächsten Folge des Beitrags zur „Geschichte der Wingolfsblätter“ sein.

Konzeptionelle und drucktechnische Veränderungen

Zum Schluss dieses Kapitels der Wingolfsblätter-Geschichte soll noch ein Blick auf die „Äußerlichkeiten“ geworfen werden – Äußerlichkeiten, die sehr wohl auch Rückschlüsse auf gewisse Veränderungen in Inhalt, Schwerpunktsetzung und Umfeld der Wingolfsblätter zulassen: Welche Veränderungen an Druckbild, Layout, Papier, Format usw. sind zu vermerken? Gibt es Rubriken, deren Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein für den Charakter der Wingolfsblätter von Bedeutung sind? Solcherart sind die Fragen, denen in diesem Abschnitt nachgegangen werden soll.

Die ersten Nachkriegshefte haben auf den ersten Blick noch dieselbe Anmutung wie die Wingolfsblätter der 1920er- und 1930er-Jahre: Das Format ist nach wie vor dasselbe (28,5 cm hoch, 20 cm breit – also etwas kleiner als das DIN-A4-Format), das Layout ist ähnlich. Auffallend ist zum einen die schlechte Qualität des Papiers, die der wirtschaftlichen Not der Nachkriegszeit geschuldet sein dürfte, zum anderen das stark wechselnde Schriftbild: Manche Teile sind in Fraktur gesetzt, andere nicht. Das mag zum Teil Absicht sein, um die unterschiedlichen Arten von Text stärker gegeneinander abzusetzen. Einen weiteren Grund nennt Schriftleiter Karl Mench (ClzM 31): Demzufolge „haben sich sowohl inhaltlich wie technisch verschiedene Schwierigkeiten ergeben. Einmal fehlte es an Manuskripten und zum anderen an ausreichendem Schriftmaterial, das heute nur wenige Druckereien in genügendem Maße zur Verfügung haben, zumal dieses Heft besonders viel Satzzeichen erforderte.“

Neu ist übrigens, dass bereits ab dem ersten Heft 1949 der auf etwas stärkeres hellblaues Papier gedruckte Umschlag auf der Vorderseite von einer Zeichnung der Wartburg geziert wird. Auf diese Weise soll sowohl an die Wurzeln des Wingolfs als auch an die jenseits der Grenze im Osten lebenden Wingolfiten erinnert werden.

Eine Änderung des Formats erfolgt 1951. Es ist jetzt 20 cm hoch und 13,5 cm breit, also etwas kleiner als das DIN-A5-Format. Mench schreibt dazu: „Gründe finanzieller und technischer Art haben den Vertreter-Konvent und den geschäftsführenden Ausschuß des VAW bewogen, die Wingolfsblätter mit dem 70. Jahrgang in dem hier vorliegenden Format erscheinen zu lassen.“ Das Papier ist nach wie vor von schlechter Qualität, der Druck zum größten Teil in Frakturschrift. Das neue Format ist, wie Mench betont, „handlicher“, allerdings ist es – zumindest für heutige Gewohnheiten – auch deutlich leseunfreundlicher. Denn mit dem kleineren Format musste auch vom zwei- zum einspaltigen Layout gewechselt werden. Der etwas lockerere Zweispaltensatz hatte, verbunden mit Zwischenüberschriften bei längeren Artikeln, dem Auge des Lesers einen gewissen Halt geboten. Jetzt waren meist mehrere eng bedruckte Seiten mit wenig Randfläche und ohne Zwischenüberschrift oder gar Illustration zu „überstehen“.

Mit dem 72. Jahrgang (1953) wird dann die Frakturschrift aufgegeben, die Texte sind nun etwas stärker untergliedert und auch die Zahl der Illustrationen steigt langsam wieder. Wie dreißig Jahre zuvor spiegelt sich auch hier eine positive wirtschaftliche Entwicklung: Die Zahl der Wingolfiten, die die Möglichkeit haben, zu fotografieren und Bildmaterial beizusteuern, nimmt zu. Anlässlich von Wartburgfesten gibt es nun auch wieder Sonderseiten auf glänzendem Bilderdruckpapier, die die Berichterstattung durch Fotos ergänzen.

Auch sonst lässt sich der wirtschaftliche Aufschwung an den im Zweimonatsrhythmus erscheinenden Wingolfsblättern ablesen: Die Papierqualität wird zunehmend besser, der Umschlag – ab dem 74. Jahrgang 1955 beige statt hellblau – ist nun aus einem festeren Karton. Und mit dem 84. Jahrgang 1965 steht dann die nächste Veränderung an: Das Layout wird modernisiert und ist nun wesentlich lesefreundlicher, das Format ist von nun an das vielen der heutigen Leser noch vertraute DIN C5 (22,5 cm hoch und 16 cm breit, also größer als DIN A5 und kleiner als DIN A4).

Aussagekräftig sind auch die Veränderungen der Rubriken. Unter „Ceterum censeo“ haben von 1955 an die Wingolfiten die Möglichkeit, in kurzer, prägnanter Weise Stellung zu allgemeinen wie wingolfitischen Themen zu beziehen. Ab 1959 wird diese Rubrik von „Pro und Contra“ abgelöst. Beide Rubriken sind bemüht, einen bundesbrüderlichen Dialog zu strittigen Themen in Gang zu setzen. Die Rubriken „Hochschul-Rundschau“ und „Was andere schrieben“ richten den Blick auf das, was in anderen korporativen Dachverbänden, hochschulpolitischen Gruppen und an den einzelnen Universitäten geschieht.

Eingestellt wurde hingegen eine andere Rubrik: 1951 beschloss die Redaktion der Wingolfsblätter, die Berichte aus den einzelnen Wingolfsverbindungen nicht mehr vollständig abzudrucken. Gegen einen empörten Bundesantrag des Mainzer Wingolfs verteidigt die Redaktion diese Entscheidung und erklärt – wozu Journalisten und Redaktionen nur allzu oft gezwungen sind –, dass die Auswahl, Kürzung und Bearbeitung von Beiträgen keineswegs gleichbedeutend mit Zensur sind, sondern nichts als die notwendige redaktionelle Tätigkeit, ohne die statt einer lesbaren Zeitschrift lediglich ein unverdaulicher Papierwust produziert werden würde. Wie richtig es war, die obligatorischen Semesterberichte aufzugeben, zeigt auf satirische Weise einige Jahre später H. P. Reinhard (Bo 50) auf. Unter der Überschrift „Semester-Spätlese 08/15“ präsentiert er einen Muster-Semesterbericht, der folgendermaßen beginnt:

„Wieder liegt ein Wintersemester hinter uns! Wir sind gewiß, daß unser Bemühen um die wingolfitische Sache nicht umsonst war, und daß sich dieses Semester würdig in die Reihe seiner Vorgänger einreiht. Unser Semesterplan, den die Chargierten auf dem Antrittskonvent vorlegten, brachte unser heißes Bemühen um Glauben, Wissenschaftlichkeit und Brüderlichkeit zum Ausdruck. Das Semester begann mit einer stilvollen Ernsten Feier (…). Darauf folgte eine feuchtfröhliche Antrittskneipe, die uns bis zum frühen Morgen in brüderlicher Runde vereinte.“

In diesem Ton geht es weiter, die jeweilige Wingolfsverbindung lässt sich mühelos nach Gutdünken einsetzen. Auf ähnliche Weise der „Phrasendreschmaschine“ den Kampf anzusagen, wäre heutzutage sicherlich nicht weniger notwendig und verdienstvoll.

Posted by Onlineredaktion
Kurzer Rückblick auf die Gernsbacher Konvention 2024

Kurzer Rückblick auf die Gernsbacher Konvention 2024

Mit dem 50. Treffen der Gernsbacher Convention vom 9. bis 12. Mai 2024 ist ein rauschendes Fest vergangen. Zur Begrüßung wurde ein Sektempfang mit freudigem Händeschütteln und herzlichen Umarmungen erlebt. Nach einem Abendessen stieg eine akademische Weinkneipe im Gewölbekeller (Phil. Hirschle) und eine fröhliche Kneipe – Proooost – zur Einweihung der Gedenktafel für Philister Eisenlohr (Bbr. Röhner) in ebenjenem Pfarrhaus.

Am Freitag konnte während einer Stadtführung eine kleine Schaumweinverköstigung bei unserer lieben Studentenwirtin Jutta Marko im Brüderlin genossen werden. Es schloss sich ein Bürgerschoppen im Freien mit Blasmusik, Polonaise und DJ an.
Der Samstag als traditioneller Höhepunkt begann mit einer inspirierenden Ernsten Feier (Phil. Kümmel) in der St. Jakobskirche. Noch beschwingt vom massiven Orgelhall (Phil. Köpf) wurde vor der Kirche die bronzene Gedenktafel (Bbr. Plapper u. Meixner) für Pfarrer Jakob Eisenlohr formell eingeweiht. Nach einem Umzug zum Argentina-Denkmal und dem Totengedenken (Bbr. Gerber) folgte ein Zug mit wehenden Fahnen durch die beflaggte Altstadt. Vor dem Kommers konnten wir bei herrlichem Wetter eine Vesper genießen.

In der Stadthalle gab uns Professor Volker Kauder bei einer bierernsten Festrede die Ehre. Die begeisterte Corona dankte für diese mit kollektiven Hochachtungsschlucken. Ein recht politisches Grußwort des Bürgermeisters Julian Christ rundete das Erlebte ab. Nach einem zügigen Kommers konnte im Fackelschein ein besinnlicher Abschluss zum Cantus „Der Mond ist aufgegangen“ auf der Murginsel gefeiert werden.

Diesen Kurzbericht abschließend und auf eine illustre Umschreibung der Konvention in der nächsten Ausgabe der Wingolfsblätter verweisend, möchte ich dem Tübinger Wingolf und im Besonderen meinen Conchargen Rommel und Riedmüller für ihre Arbeit danken. Den kommenden Conventionschargen Christian Knist Pereira dos Santos Mz19, Stefan Berger Mz22 und Mirko Heidemann Dst22 wünsche ich Gottes Segen für diesen Dienst.

Michi Meixner, T19 St23 (Gx)

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Zur 150-jährigen Geschichte der Wingolfsblätter (1918–1938)

Zur 150-jährigen Geschichte der Wingolfsblätter (1918–1938)

„Sie wollen keine Preßfreiheit, weil sie glauben, der Wind drehe sich nach der Wetterfahne“ – so spottete der Dichter und Journalist Ludwig Börne (1786–1837), einer der wichtigsten Vorkämpfer für Demokratie in Deutschland, einst über die Gegner der liberalen Bewegung. Mit diesen Worten spricht Börne, ein Dilemma an, dem sich jedes Medium, jeder Journalist immer wieder von Neuem stellen muss: Wind oder Wetterfahne?

In welchen Phasen ihrer Geschichte die Wingolfsblätter eher „Wind“ in welchen eher „Wetterfahne“ waren, dieser Frage soll – anschließend an den ersten Teil (Wbl. 3/2023, S. 13–20) – auch im zweiten Teil dieses Beitrags zur Geschichte der Wingolfsblätter nachgegangen werden.

Der Beitrag erschien im Original in den Wingolfsblättern 1/24 auf den Seiten 10–26. Autor ist Andreas Rode (Mz 88, Br 89, Mch 08). Die insgesamt 90 Fußnoten sind in der Onlinefassung nicht enthalten.

Die Schrecken des Ersten Weltkrieges hatten auch im Wingolf ihre Spuren hinterlassen. „Wer will mehr sagen? Vom morgigen Tag? Wer weiß von Übermorgen? (…) Also auch ihr (…) seid in Gottes Hand.“ Mit diesen Worten hatte Schriftleiter Dr. Dr. Friedrich Ulmer (Mch Stft 1896, E 1897 et al.) seinem Schock und seiner Trauer über die Niederlage Ausdruck gegeben. Er dürfte damit die Stimmung der meisten Wingolfiten getroffen haben. Nun ging es darum, das Geschehene zu verarbeiten und in der veränderten Situation, im neu entstandenen Staat die eigene Position zu finden.

Remarque oder Jünger?

„All of you young people, who served in the war. You are a lost generation.“ So hatte sich die US-amerikanische Schriftstellerin und Verlegerin Gertrude Stein einst gegenüber Ernest Hemingway geäußert. „Lost Generation“ – diese Bezeichnung wurde, befördert von Hemingway, in den USA bald zum Gegenstand einer breiteren Diskussion. Spätestens mit Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“, wo der Protagonist Paul Bäumer von der „Verlorenen Generation“ spricht, wird der Begriff auch in Deutschland bekannt.

Zur „Verlorenen Generation“ zu gehören – was das bedeutet, wird klar, wenn man sich in die Situation eines zwischen 1895 und 1900 geborenen Aktiven hineinzudenken versucht: Nach wenigen Semestern Studium oder sogar direkt von der Schule kommend waren sie Soldat geworden und an die Front geschickt worden. In einer Lebensphase, die zu den prägendsten im Leben eines Menschen gehört, hatten sie unaussprechliche Angst und Gewalt erleben müssen. Manche hatten ihre Freunde unter Qualen an ihrer Seite sterben sehen. Andere waren verwundet worden, hatten möglicherweise Gliedmaßen amputiert bekommen und mussten als „Kriegsversehrte“ weiter ins Leben gehen. Wieder andere hatten von ihren Erlebnissen an der Front eine schwere Neurose davongetragen, galten als „Kriegszitterer“.

Gesprochen wurde über diese Dinge kaum, zumindest nicht in den konservativeren Kreisen. Auch in den Wingolfsblättern wurden sie kaum explizit thematisiert. Und doch waren sie im Hintergrund stets präsent. Oft wusste man gar nicht, was aus den jüngeren Philistern und den Vorkriegs-Aktiven, die an der Front gewesen waren, geworden war. Daher veröffentlichte man zum Beispiel Aufrufe wie denjenigen des Hallenser Wingolfs, der eine „Ehrentafel“ plante: „Freunde und Angehörige werden gebeten, Namen und Todestag gefallener Mitglieder des Hallenser Wingolfs dem Unterzeichneten schleunigst mitzuteilen.“ Und immer wieder erschienen Todesanzeigen für gefallene Bundesbrüder, die mal von den Hinterbliebenen, mal von der jeweiligen Verbindung geschaltet wurden. Selbst mehrere Jahre nach Kriegsende herrschte Ungewissheit über das Schicksal mancher Bundesbrüder. Noch im Mai 1922 erscheint in den Wingolfsblättern eine lange Liste mit Nachrichten und Berichtigungen zum Tod im Krieg gefallener Wingolfiten. Ein besonders aussagekräftiges Beispiel ist die im April 1921 veröffentlichte Anzeige des Charlottenburger Wingolfs: „Nachdem die letzten Gefangenen zurückgekehrt sind, ist leider kein Zweifel mehr möglich, daß unser lieber Philister Siegfried Liepe (Ch 01, St 01) in den Oktoberkämpfen des Jahres 1918 gefallen ist. Wir betrauern in ihm den 15. unserer auf dem Felde der Ehre Gefallenen.“

Die Formulierung „auf dem Felde der Ehre“ entspricht dem Stil der Zeit. Im Großen und Ganzen lagen die Artikel in den Wingolfsblättern, die sich mit dem Krieg auseinandersetzten eher auf der Linie Ernst Jüngers, der in seinen Büchern, vor allem in dem 1920 erschienenen Erinnerungsband „In Stahlgewittern“ und dem zwei Jahre später publizierten Essay „Der Kampf als inneres Erlebnis“ den Krieg als positiv prägend feierte. Und nicht selten wurde auch – kurz nach dem Krieg und unter dem Eindruck der Niederlage und des Versailler Vertrags sicher nicht verwunderlich – eine gewisse Schwarz-Weiß-Malerei betrieben: So setzt, um nur ein Beispiel zu nennen, Heinrich Meinhof (H 07, Be 09) unter der Überschrift „Zur Auslieferungsfrage – Persönliche Erlebnisse“ das Bild der guten, heldenhaften, ehrlichen Deutschen gegen das der angeblich intrigenhaften, arroganten Engländer. Solche und ähnliche Erinnerungen und Schilderungen finden sich immer häufiger, je weiter der Krieg zurückliegt. In Beiträgen anlässlich einschlägiger Termine wie etwa dem „Tag von Langemarck“ oder dem Volkstrauertag, der ab 1934 von den Nationalsozialisten zum „Heldengedenktag“ umdeklariert wurde, feierten auch die Wingolfsblätter das Kriegserlebnis. Nicht zuletzt die Diskussion um die 1932 erfolgte Umgestaltung und Erweiterung des ursprünglich für die gefallenen Wingolfiten des Deutsch-Französischen Krieges (1870/71) errichteten Denkmals, die in den Wingolfsblättern ausgiebig geführt wurde, gab Gelegenheit, sich mit dem Ersten Weltkrieg auseinanderzusetzen.
Es ist keine Ausnahme, wenn es etwa in der Ausgabe vom 3. Februar 1920 unter der Überschrift „Vom Nationalbewußtsein“ heißt: „Der Friede tut uns weher als der Krieg. Kämpfen können, im Kampf sterben können – das war das Leben. (…) Damals dichteten nicht die schlechtesten unter uns Haßgesänge gegen England (…) Hätten wir besser gehaßt, so hätten wir auch eine heißere Liebe zum eigenen Volk gefühlt.“ Und ein Beitrag wie der von Erich Zieprecht (M 00, G 02 et al.), der unter der Überschrift „Kriegsschuldlüge“ die Aggressoren klar im Lager der Gegner verortet, dürfte wohl bei der Mehrheit der Wingolfiten Zustimmung gefunden haben.

Eine kriegskritische Haltung, die das an der Front erlebte Grauen sich selbst und der Leserschaft gegenüber ins Wort bringt, wie dies später z. B. Erich Maria Remarque in seinem Antikriegsroman „Im Westen nichts Neues“ tun sollte, trifft man in den Wingolfsblättern also eher nicht an. Immerhin konnte im Januar 1920 ein pazifistischer Aufsatz unter der Überschrift „Liebet eure Feinde“ erscheinen, wenn dieser auch von der Redaktion mit einer ausführlichen kritischen Anmerkung versehen wurde. Und auch sonst findet man hier und da leisere Töne: „Von der Seele des Kriegsgefangenen“ ist ein Beitrag überschrieben, in dem die Sprachlosigkeit gegenüber dem Leid des Krieges vorsichtig thematisiert wird. Dort heißt es unter anderem: „Auch ist das Wort nie Ausdruck höchsten Leides, und die Jahre haben verschlossen gemacht. Aber im Verborgenen setzte sich jeder auseinander mit dem Neuen, das da in seine Seele eingriff.“

Eine prägende Gestalt

Ob Zufall oder nicht: In die Umbruchzeit nach dem Ersten Weltkrieg fallen auch im Wingolf grundlegende Veränderungen. Veränderungen, die auch die Wingolfsblätter betreffen.

Vom 22. bis zum Juli 1919 traf man sich in Berlin zu einer Sprechertagung des Wingolfs (aktiver Bund) und parallel dazu zu einer Tagung des Verbandes Alter Wingolfiten (VAW). Hier wurde ein „Geschäftsführender Ausschuss“ bestellt, der die Geschicke des Verbands lenken sollte. Als VAW-Vorsitzender wurde August Winkler (H 1889, T 1890 et al.) an die Spitze gewählt. Zudem wurde, wie vom aktiven Bund angemahnt, ein sogenannter hauptamtlicher „Bundeswart“ angestellt – später sprach man vom „Geschäftsführer“ oder „Generalsekretär“. Dieser sollte – so sah es die Stellungbeschreibung im Arbeitsvertrag vor – auch die „Schriftleitung der Wingolfsblätter einschließlich der technischen Seite“ übernehmen.
Das neu geschaffene Amt wurde Dr. Robert Rodenhauser (M 05, Mst 07 et al.) anvertraut. Und nicht zu Unrecht äußert Hans-Martin Tiebel (E Nstft 47, G 48, Hv Nstft 52) in der „Geschichte des Wingolfs“ Bewunderung für den Mut und den Optimismus, „einen verheirateten, kriegsbeschädigten Mann zum Bundeswart zu berufen, dessen Besoldung in dieser unsicheren Zeit (die Inflation hatte begonnen!) alles andere als gesichert war.“

Mit der Entscheidung, Rodenhauser anzustellen und ihm auch die Schriftleitung der Wingolfsblätter anzuvertrauen, endete die Amtszeit von Friedrich Ulmer, der die Zeitschrift seit 1913 betreut hatte und dabei in den technischen Dingen wie Druckabwicklung und Vertrieb von seinem Vorgänger Wilhelm Sarges (Be 1869, M 1872 et al.) unterstützt worden war.

Ob Rodenhauser das Amt angetreten hätte, wenn er bereits im Jahr 1919 geahnt hätte, welche schweren Entscheidungen er 1933, nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten zu treffen haben würde? Wenn man seine Leitartikel und Beiträge in den Wingolfsblättern liest und sein (hochschul-)politisches Agieren in den schwierigen Jahren bis zur Auflösung des Wingolfs unter dem Nationalsozialismus betrachtet, so erscheint Rodenhauser als ein Mann von engagiert christlicher, aber entschieden konservativer Grundhaltung, der mit der Weimarer Republik zunächst fremdelte und national, in Teilen auch nationalistisch gesonnen war. Es zeigt sich aber auch, dass er bereit war, in den Wingolfsblättern von seiner eigenen Einstellung abweichende Ansichten zu Wort kommen zu lassen und im Zweifel zwischen gegensätzlichen Standpunkten zu vermitteln. Mit Sicherheit war Rodenhauser ein Wingolfit aus tiefster Seele, der bereit war, viel für „seinen“ Bund einzusetzen. Dass er dabei auch manches tat und schrieb, was aus heutiger Sicht sachlich und moralisch schwierig ist, ist kaum zu bestreiten und dürfte auch nicht überraschen.

Zwischen Skepsis und Zustimmung

Es „ist festzustellen, daß im Wingolf seit dem Ersten Weltkrieg neben und zum Teil über dem christlichen Prinzip das nationale stand“, stellt Hans-Martin Tiebel in der 1998 erschienenen „Geschichte des Wingolfs“ fest. Und er fährt fort: „Die Glorifizierung von Krieg und Kriegserlebnis, die Kritik an der Revolution und auch eine weitverbreitete Skepsis gegenüber der aus dem Westen kommenden parlamentarischen Demokratie führten zu einer Verfestigung der überkommenen konservativen Haltung.“

Wenn man die Wingolfsblätter der Jahre 1919 bis 1932 durchblättert, findet man darin nicht wenige Beiträge, die diese Einschätzung Tiebels bestätigen. Bereits 1919, direkt nach der Gründung der Weimarer Republik, ist der Leser der Wingolfsblätter mit einer deutlichen Skepsis dem neuen Staat gegenüber konfrontiert: In der Folge 1/2 des Jahres 1919 äußert sich Hermann Knodt (Gi 1899), der Verfasser des ersten Wappenbuchs des Wingolfs, deutlich ablehnend gegenüber den neuen Reichsfarben Schwarz-Rot-Gold: Für ihn gibt es zwei „Linien“, die „von dem alten idealen Schwarz-Rot-Gold der Freiheitskriege und der alten Burschenschaft in die Gegenwart“ führen: Die eine – von ihm befürwortete – ist Knodt zufolge „die rein kaisertreu-vaterländische“ der Burschenschaft“ und „die „christlich vaterländische des Wingolfs“. Von dieser Linie schreibt Knodt zusammenfassend: Sie „hat in dem Schwarz-Weiß-Rot des deutschen Kaiserreichs von 1871 ihre Erfüllung gefunden und wird auch in der Zukunft ihre große Geschichte nicht verleugnen.“ Deutlich abfällig äußert sich Knodt hingegen über die „zweite Linie“, auf die sich die Weimarer Republik beruft: „Dieses Schwarz-Rot-Gold, das den internationalen Republikanismus immer über das Nationale gestellt hat, hat nicht das geringste Recht sich auf die große vaterländische Bedeutung dieser alten Farben zu berufen, und diese beiden entgegengesetzten Welten heute unter einer Flagge wieder zusammenfügen zu wollen, ist entweder große Unkenntnis oder bewußte Lüge und Geschichtsfälschung.“

Wohltuend nüchtern klingen dagegen die Erläuterungen, die Fritz Ehringhaus in Heft 5 des gleichen Jahrgangs zur neuen Reichsverfassung abgibt. Diese „versuche, neben dem sozialen Grundsatze die beiden Grundgedanken der Volksherrschaft und Reichseinheit durchzuführen.“ Und Franz Streetz (Be 1862, Bo 1902) bekennt gar: „So stellen wir uns unter allen Umständen heute der neuen Regierung zur Verfügung (…) Wir arbeiten mit auf den neuen Wegen und unterdrücken das tiefe Heimweh nach der verlorenen guten alten Zeit.“

Die Lektüre der Wingolfsblätter jener Jahre lässt jedoch vermuten, dass Streets mit seiner Haltung zu einer Minderheit gehört haben dürfte. Für den größeren Teil der Wingolfiten war die untergegangene Monarchie eine Garantin für Nationalitätsbewusstsein und Christlichkeit gewesen. Was man hingegen vielfach von der neuen Republik und erst recht ihrer ersten Regierung hielt, zeigte sich immer wieder in Formulierungen wie dieser zum Weihnachtsfest 1919: „Aber dennoch kommt Weihnachten auch in diesem Jahre des Unheils. Gott sei Dank! Kein Dekret einer religionsfeindlichen Regierung, kein Machtbefehl unserer racherfüllten Feinde konnte uns dieses Fest nehmen, dieses christlich-deutscheste aller Feste.“

Es finden sich noch weitere Beispiele für die Skepsis vieler Wingolfiten gegenüber der jungen Republik und ihrem Führungspersonal in den Wingolfsblättern: Während einst vom Wartburgfest ganz selbstverständlich ein – in den Wingolfsblättern dokumentiertes – Ergebenheitstelegramm an den Kaiser gesandt wurde und auch der 1925 zum Reichspräsidenten gewählte ehemalige Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg regelmäßig ein solches Telegramm erhielt, wurde an seinen Vorgänger, den Sozialdemokraten Friedrich Ebert (Reichspräsident von 1919 bis 1925), niemals eines versandt. Den „kaiserlichen Jubiläen“ wurde viel Raum gegeben. So ist etwa die Ausgabe vom 18. Januar 1921 schwerpunktmäßig und mit ehrfurchtsvollen Beiträgen dem 50. Jahrestag der Reichsgründung gewidmet und auch die Beiträge zum Tod von Kaiserin Auguste Victoria, der Frau Wilhelms II., lassen eine ausgesprochen nostalgische Verklärung des Kaiserreiches erkennen.

Wirtschaftliche Not

Die wirtschaftliche Not – teils den Kriegsfolgen und den übermäßig hohen Reparationszahlungen an die Sieger, teils aber auch der allgemeinen weltweiten Wirtschaftslage geschuldet, machte es den Menschen nicht eben leichter, sich mit der jungen Republik auszusöhnen. Wie sehr diese Not auch jeden einzelnen Wingolfiten und den Wingolf als Ganzes sowie – nicht zuletzt – die Wingolfsblätter traf, davon sollen die folgenden Schlaglichter einen kleinen Eindruck vermitteln.
Weil man Schwierigkeiten fürchtet, im Winter 1920/21 ausreichend Heizmaterial sowohl für die Universitäten als auch für die Zimmer der einzelnen Studenten zu bekommen, wird beispielsweise der Vorschlag diskutiert, auf das Wintersemester zu verzichten und stattdessen zwei Sommersemester – vom 15. April bis zum 15. Juli sowie vom 15. August bis zum 15. November 1920 anzusetzen.

In den Wingolfsblättern wird in den ersten Jahren der Republik über verschiedene Hilfswerke berichtet, die das Ziel haben, notleidende Studenten und Akademiker zu unterstützen – so etwa der Akademische Hilfsbund. Auch innerwingolfitisch wird Hilfe organisiert: Das „Bücheramt des Wingolfs“ soll Aktive bei der Anschaffung notwendiger Lehrbücher unterstützen. Die „Wirtschaftshilfe“ des Tübinger Wingolfs hat sich zum Ziel gesetzt, „durch den Einkauf billiger Bänder, Mützen, Getränke, Lebensmittel usw. der wirtschaftlichen Not der Verbindung bzw. einzelner Aktiver zu steuern.“ Und vor allem gründet sich eine „Notgemeinschaft des Wingolfs“, deren Mitglieder sich zur „freiwilligen Aufbringung von Geldmitteln über die Pflichtbeiträge“ verpflichten.

In der Ausgabe vom 2. Februar 1921 wird exemplarisch vorgerechnet, dass die Lebenshaltungskosten eines Berliner Studenten gegenüber der Vorkriegszeit um das Achtfache gestiegen seien. Und ein Jahr später schreibt Rodenhauser in der Vertraulichen Beilage zu den Wingolfsblättern: „Schwierigkeiten bereitet nach wie vor die Finanzierung des Generalsekretariats. Ich habe in den ersten Jahren meiner Tätigkeit mich mit Gehältern begnügt, die gewiß als bescheiden anzusehen sind und den Lebensunterhalt für mich und meine Familie nicht bestreiten konnten, trotzdem meine Wingolfsarbeit mich so vollständig in Anspruch nahm, daß mir zu Nebenerwerb keinerlei Zeit blieb.“

Auch auf die Wingolfsblätter selbst wirkte sich die Not aus: Die Hefte wurden dünner, das Papier schlechter und gegen Ende des Jahres 1922 sah man sich gezwungen, die Erscheinungsweise von zweimal auf einmal monatlich zu reduzieren.

Dabei nahm die Inflation erst jetzt richtig Fahrt auf: Im Juli 1923 berichtet die Aktivitas des Tübinger Wingolfs unter der Überschrift „Auf Lebensmitteltour im Schwabenland“ von einer Hamstertour auf die Alb. Und im selben Heft erfolgt ein Aufruf an die Bezirksverbände: „Die furchtbare Markentwertung der letzten Monate zwingt uns, für die Zwecke des VAW, besonders die Unterhaltung des Generalsekretariats für 1923, zu den zu Beginn des Jahres ausdrücklich als vorläufig bezeichneten 500 Mk. Einen weiteren Kopfbeitrag von 5000 Mk. zu erheben.“

Von jetzt an geht es Schlag auf Schlag: Schon im August wird erklärt, der Bezugspreis für die Wingolfsblätter müsse von 5000 Mk. pro Quartal (diese entsprächen jetzt etwa einem halben Pfennig) auf 50.000 Mk. angehoben werden. Für das laufende Quartal müsse eine Nachforderung von 45.000 Mk. erhoben werden. Schließlich geht man dazu über, keine festen Preise mehr zu veranschlagen, sondern einen Referenzwert anzugeben: die 30-fache Höhe des Portos für einen Fernpostbrief.
Erst mit der Währungsreform vom November 1923 – der Umstellung auf Rentenmark – begann sich die Situation zu beruhigen. Dass es langsam wieder aufwärts ging sahen Leser der Wingolfsblätter auch daran, dass das Papier ihrer Verbandszeitschrift ab 1926 wieder besser wurde. Das änderte aber nichts daran, dass über die Jahrgänge 1927 bis 1929 in der Vertraulichen Beilage zu den Wingolfsblättern immer wieder über die „Beitragsnot“, d. h. über die mangelnde Zahlungsfähigkeit (oder Zahlungswilligkeit) vieler Wingolfiten diskutiert wurde. Ein Grund war sicherlich, dass die sagenumwobenen „Goldenen Zwanziger“ in Wirklichkeit nur die Jahre 1924 bis 1929 umfassten und auch keineswegs in der gesamten Bevölkerung (auch nicht in der gesamten Akademikerklasse) zu spüren war.

Bereits im Oktober 1929 löste der Zusammenbruch der New Yorker Börse eine weltweite Wirtschaftskrise mit kontinuierlich steigenden Arbeitslosenzahlen aus. In den Wingolfsblättern wurde unter dem Titel „Die Ursachen der Wirtschaftskrise und die Wege zu ihrer Überwindung“ eine Lohnsenkung bei gleichzeitiger Arbeitszeitverlängerung ins Spiel gebracht, um so dank gesunkener Produktionskosten auf dem Weltmarkt besser bestehen zu können. Im selben Heft wurde auch eine Dienstverpflichtung für Arbeitslose diskutiert.

Interessant ist die Reaktion des Wingolfs: Im März 1932 wird in der Vertraulichen Beilage eine Senkung der Wingolfsbeiträge wegen des allgemeinen Absinkens der Gehälter verkündet.

Und noch etwas dokumentieren die Wingolfsblätter: Einerseits herrscht zweifelsohne wirtschaftliche Not, auch bei Wingolfiten. Andererseits werden in den Jahren 1931 und 1932 – also mitten in der Krise – Mittelmeer- und Orientreisen, Rheinweine und ähnliche Luxusgüter beworben. Offenbar gab es in der Gesellschaft – und auch im Wingolf – trotz allem auch solche, die sich derartige Dinge leisten konnten.

Politische und gesellschaftliche Themen

Welche Themen beschäftigten die Wingolfiten sonst, die in den Wingolfsblättern ihren Niederschlag fanden?
In den ersten Jahren war immer wieder das Thema Nation und Nationalbewusstsein präsent. Eine ganze Artikelreihe erschien mit Überschriften wie „Nationalbewußtsein und Weltwirtschaft“, Nationalbewußtsein und Wissenschaft“, „Nationalbewußtsein und historische Kulturmächte“ Immer wieder ging es auch um die in der Folge des Krieges verlorenen Gebiete. Regelmäßig wurde von den „Grenzlandfahrten“ und „Grenzlandtagungen“ des Wingolfs berichtet und immer wieder war die Situation der Deutschen im Elsass oder in den ehemals preußischen und jetzt polnischen Gebieten Thema.

Ein weiteres Thema war die Positionierung zum Sozialismus. Während der Bolschewismus sowjetischer Prägung klar abgelehnt wurde, war das Verhältnis zu Sozialdemokratie und Sozialismus umstritten. Das zeigte sich in dem Konflikt, den der später so berühmte Theologe Paul Tillich (Be 04, T 05, H 05) in den Wingolfsblättern austrug: Im Januar 1924 war ein Artikel von Dr. Heppe mit dem Titel „Nationale Erneuerung“ erschienen. In der folgenden Ausgabe antwortete Tillich mit deutlichen Worten darauf: „1. Es verträgt sich meiner Überzeugung nach nicht mit der christlich-wingolfitischen Gemeinschaft, wenn eine Richtung, wie der Sozialismus, zu der sich – politisch oder ideell – eine Reihe von Wingolfiten bekennen, in einer Weise charakterisiert wird, die nicht nur jede Objektivität vermissen läßt, sondern auch im höchsten Maße verletzend und herabwürdigend ist. (…) 3. Es entspricht meiner Überzeugung nach nicht der Anforderung wissenschaftlicher Objektivität, wenn die ungeheure soziologische, ökonomische, geistige und religiöse Problematik des Sozialismus so leicht genommen wird, daß man für sie nur ein paar agitatorische Schlagworte übrig hat. (…) 4.(…) Nicht auf deutschem Glauben und deutscher Sitte, sondern auf christlichem Glauben und christlicher Sittlichkeit ist der Wingolf gegründet. (…) Und wenn Heppe den Sozialismus schlechterdings undeutsch nennt, weil auch ein Jude, ein Schüler Hegels und Feuerbachs Formeln für ihn gefunden hat, so würde mit derselben Methode der deutsche Idealismus undeutsch zu nennen sein, weil er weithin eine Synthese von Kant und dem Juden Spinoza darstellt -, von Paulus und den Männern des Neuen Testamentes ganz zu schweigen.“

Tillichs pointierte Erwiderung auf Heppe erntet ihrerseits ebenfalls Widerspruch: Rodenhauser kommentiert als Schriftleiter in einer Fußnote zu Tillichs Beitrag: „Daß die Ausführungen von Kphl. Heppe ‚im höchsten Maße verletzend und herabwürdigend‘ gewesen seien, kann nicht zugegeben werden.“ Und in der Folge entspannt sich eine Leserbriefdebatte, die in den Wingolfsblättern bis zum Mai 1924 einigen Raum einnimmt.

Immer wieder wurden in den Wingolfsblättern politische Themen behandelt, wobei manche Artikel dem heutigen Leser als düstere Vorboten der kommenden Katastrophe des Nationalsozialismus erscheinen. Auf sie soll weiter unten in einem gesonderten Kapitel eingegangen werden. Doch es gab auch eine Reihe anderer Themen: So befasste man sich etwa mit der Frage, wie soziale Verantwortung gelebt werden könne. Ein Beispiel dafür ist Friedrich Waas (Gd 98, Gi 99), der unter der Überschrift „Proletarischer Glaube“ ausführte: „Und ein Vater Bodelschwingh mit seinem warmen Herzen voll Liebe, seinem offenen Blick für die Not seiner Umgebung und seinem praktischen Sinn, der nicht eher zufrieden war, bis er einen Weg aus der Not herausgefunden hatte, hat sicher mehr für das Christentum gewirkt, als Hunderttausende noch so gut gemeinter Predigten.“

Breit diskutiert wurde wiederholt die Frage der verfassten Studentenschaft: Im Februar 1922 ging es vor allem darum, ob diese nur „reichsdeutsch“ sein solle oder auch die österreichisch-deutschen oder sudetendeutschen Studierenden mit einzubeziehen habe. In der „Vertraulichen Beilage“ entwickelt sich daraus eine intensive Debatte, in der es darum geht, ob die verfasste Studentenschaft eher eine Geistes- und Gesinnungsgemeinschaft oder eher Interessenvertretung und Zweckverband sein solle. Im Jahr 1928, als eine neue Verfassung erarbeitet wurde, war das Thema der verfassten Studentenschaft dann abermals ausführlich Thema in den Wingolfsblättern.

Auch Kunst und Kultur wurden in den Wingolfsblättern thematisiert: Prominentestes Beispiel ist der Autor und später sehr erfolgreiche Regisseur und Filmproduzent Harald Braun (Be 19, Fr 20). Dieser verfasste einige thematisch orientierte Sammelrezensionen zu Neuerscheinungen auf dem deutschen Buchmarkt. Auch darüber hinaus schrieb er in den Wingolfsblättern mehrfach zu kulturellen und kulturpolitischen Themen. Beispielsweise widersprach er in einem längeren Beitrag der immer wieder behaupteten These, dass die neuen Medien Radio und Film zu einer „Kulturinflation“ führten.

Wingolfsbezogene Themen

Natürlich sind neben Fragen von allgemeinem Interesse viele wingolfsspezifische Themen in den Heften jener Jahre zu finden: Wie heute auch noch sind da immer wieder Berichte von Wartburgfesten und Konventionen, von Stiftungsfesten und Philistertagen; Festreden und Ansprachen werden ebenso dokumentiert wie Predigten zu Ernsten Feiern. Aber auch von anderen Veranstaltungen, von Fahrten und Ausflügen wird erzählt, so etwa von Skifreizeiten auf der Hütte des Freiburger Wingolfs.

Bei diesen Berichten von Wingolfsveranstaltungen zeigt sich auch der technische Fortschritt. Für immer mehr Wingolfiten ist es möglich (und bezahlbar), bei Wingolfsveranstaltungen zu fotografieren. Dementsprechend finden auch immer häufiger Fotografien ihren Weg in die Wingolfsblätter. 1930 ist es dann so weit: Erstmals gibt es im Rahmen der Berichte vom Wartburgfest einen eigenen, auf spezielles Bilderdruckpapier gedruckten Fototeil.

Auch die „trockene“ Seite des Wingolfslebens ist damals schon Thema – wenn auch vor allem in der „Vertraulichen Beilage“, die ab 1934 „Wingolfsnachrichten“ heißt: Hier werden die Diskussionen um Struktur- und Satzungsfragen geführt, die wir noch heute nur allzu gut kennen.

Ein immer wieder auftauchendes Thema sind die sportlichen Aktivitäten der Wingolfsverbindungen, über die regelmäßig berichtet wird. Hier kommt zweierlei zusammen: Zum einen nimmt der Sport in jenen Jahren insgesamt einen großen Aufschwung, zum anderen führen die strengen Bestimmungen des Versailler Vertrags zur militärischen Einhegung Deutschlands dazu, dass sich in weiten Kreisen der Bevölkerung eine große Begeisterung für den „Wehrsport“ entwickelt, der auch im Wingolf ausgeübt wird.

Darüber hinaus versucht der Wingolf sich immer wieder selbst zu verorten. Wo stehen wir, angesichts bestimmter Erscheinungen und Entwicklungen der Gegenwart? So lautet die Grundfrage, die dann an vielen Einzelbeispielen durchbuchstabiert wird: Immer wieder neu hinterfragt wird zum Beispiel das Verhältnis zur Jugendbewegung – zu bündischer Jugend und Wandervogel.

Ein wichtiges Thema ist auch die Stellung des Wingolfs zu anderen Korporationsverbänden. Und hier spielt besonders die christlich begründete Ablehnung des Duells eine Rolle. In der „Vertraulichen Beilage“ wird das Thema besonders aktuell, als es um den Ausschluss des der Mensur zugeneigten Wingolfs in Würzburg geht. Nachdem Wingolfiten im Krieg ihren Mut ebenso bewiesen haben wie die Angehörigen der schlagenden Korporationsverbände, geht der Wingolf mit neuem Selbstbewusstsein in die Debatte – und auch die waffenstudentischen Verbände sehen den Wingolf mit anderen Augen als noch vor dem Krieg. In den Wingolfsblättern wird die Frage wiederholt diskutiert, so etwa von Focko Lüpsen (M 19) in seinem Beitrag „Zur Ethik des Ehrenschutzrechts“.

Theologisch-religiöse sowie kirchenpolitische Thematik wird sowohl „allgemein“ als auch wingolfsbezogen behandelt. Immer wieder spielen dabei Konfessionsfragen eine Rolle, sei es in einem Artikel über „Die zunehmende Machtstellung der katholischen Kirche in Deutschland“xlviii, sei es mit spezifisch wingolfitischem Bezug in der „Vertraulichen Beilage“. Standortbestimmung und Selbstvergewisserung des Wingolfs erfolgen auch mit Blick auf Fragen der „Sittlichkeit“. Häufig werden in den daraus erwachsenden Debatten auch die Unterschiede zwischen den Generationen deutlich: So echauffiert sich etwa Hermann Hannecke (H 01, S 02 et al.) über die „modernen Tänze“, die zu seinem Entsetzen selbst bei einer Veranstaltung wie dem Wartburgfest getanzt werden, woraufhin mit der Erwiderung Christoph Spehrs (Mst 26) prompt eine sich deutlich anders positionierende Antwort von Aktivenseite erfolgt. Darauf erwidert wiederum Hannecke mit großer Ausführlichkeit und verknüpft dabei sein Sittlichkeitsempfinden mit einer nationalistischen Haltung, indem er schreibt: „Das Schlimme an den anglo-amerikanischen Tänzen, die man in Deutschland tanzt, ist aber das, daß der Deutsche, wie so oft, fremdländisches Gut, das aus einer minderwertigen Zivilisation stammt, anbetend und glückselig übernimmt.“

Ganz ähnlich klingt es, wenn es um Fragen des Geschlechtlichen geht, so zum Beispiel, wenn Dr. Siegfried Wolff (Gd 09, Kg 10 et al.) zu sexueller Enthaltsamkeit aufruft und die Ansicht vertritt, dass „außerehelicher Geschlechtsverkehr fast gleichbedeutend mit dem Erwerb einer Geschlechtskrankheit ist“ und es darüber hinaus ablehnt die „Masturbation als Ersatz“ zu erlauben. So kommt er zu dem Schluss: „Jeder soll wissen, daß der Lohn köstlich ist für alle Mühe und es nichts Schöneres gibt als die dankbare Hingabe einer reinen Jungfrau an den geliebten keuschen Mann.“ Das Thema bleibt in den Wingolfsblättern weiter präsent, umso mehr als sich durch die zunehmende Zahl von Studentinnen immer mehr Kontakte zwischen den Geschlechtern ergeben. So erscheint denn auch im Januar 1929 unter der Überschrift „Wingolf und Familie“ ein Text von Pfarrer H. Birmele mit dem Ziel, „einige Fragen betreffend die Beziehungen des Wingolfiten zum jungen Mädchen zu beantworten.“

Ein kontrovers diskutiertes Thema ist die Frage nach dem Alkoholkonsum im Wingolf. „Und so möchte ich es denn hiermit dem Wingolfsbund ins Gewissens schieben, mit einem energischen Ruck den großen Schritt zu tun und die alkoholischen Getränke rundweg von allen Verbindungsbetrieben zu verbannen“, schreibt etwa Prof. Dr. Eberhard Dennert (M 1880, Bo 1881) im Dezember 1921 unter der Überschrift „Wingolf voran!“. Die Debatte ist nicht ganz so überraschend, wie sie zunächst scheinen mag, fällt sie doch in die Zeit, in der in den USA strenge Prohibitionsgesetze gelten (1920-33), auf die im Laufe der sich anschließenden und immer wieder aufflammenden Diskussion auch wiederholt verwiesen wird. 1926 wird die „Alkoholfrage“ sogar zum Schwerpunktthema des Januarheftes. In dem einleitenden Artikel zu diesem Heft geht Rodenhauser ausführlich darauf ein, dass das Streben nach Alkoholabstinenz sogar dazu geführt habe, dass einzelne Wingolfsverbindungen versuchsweise die Kneipe als Institut abgeschafft hatten. Doch all diese Versuche, die Kneipe durch „Teeabende“, „Unterhaltungsabende“ und „gesellige Stunden“ zu ersetzen, seien letztlich als allzu langweilig gescheitert, sodass man schließlich doch wieder auf das „urkorporative“ Institut der Kneipe zurückgekommen sei und eingesehen habe, dass ein bewusster Umgang mit Alkohol zwar wichtig und richtig sei, aber keine völlige Abstinenz erfordere. Dennoch wird im Herbst 1927 in der Vertraulichen Beilage die Diskussion von Paul Blesse (M 22) noch einmal neu eröffnet. Unter der Überschrift „Die Krisis der gegenwärtigen Korporation“ fordert Blesse: „Die Korporation muß sich zu der befreienden Tat aufraffen, die Kneipe als Form fallen zu lassen. Mögen ihre Glieder für sich noch kneipen, das ist ihre Sache. Die Kneipe als korporative Form darf es nicht mehr geben.“ An diesem Beitrag entzündet sich eine Debatte, die sich über die Vertraulichen Beilagen der folgenden Ausgaben der Wingolfsblätter hinzieht.

Die Bandbreite der Beiträge zu wingolfsbezogenen Themen ist deutlich größer, als hier aufgezeigt werden kann. Als Beispiel dafür, wie vielfältig, manchmal auch skurril, das Thema angegangen wurde, soll zum Schluss dieses Abschnitts noch auf einen Artikel besonders hingewiesen werden: Im Juni 1930 erscheint ein Beitrag aus der Feder Werner Blankenburgs (R 22, T 23) mit dem Titel: „Die Blockflöte – ein Beitrag zur Überwindung der Krise unseres Verbindungslebens“.

Der „tägliche Kleinkram“

Was bisher noch nicht zur Sprache kam, sind die regelmäßigen Rubriken der Wingolfsblätter jener Jahre – der „tägliche Kleinkram“ eben. Dazu gehörte zum Beispiel die Rubrik „Aus den Verbindungen“. In einer Zeit, in der es nicht so einfach war, von einer Universitätsstadt zur anderen zu fahren, um die Bruderverbindungen zu besuchen und in der nicht jede Verbindung und erst recht nicht jeder Wingolfit über ein Telefon verfügte, bot es sich an, dass in jeder Ausgabe der Wingolfsblätter einige Verbindungen reihum einen kurzen Bericht abgaben: Wie ist das zurückliegende Semester verlaufen? Wie geht es der Verbindung personell? Was waren die wichtigen Unternehmungen des vergangenen Semesters? Dies waren die Themen, die in diesen Berichten, zu denen die Verbindungen verpflichtet waren, zur Sprache kamen.

Unter der Überschrift „Akademische Rundschau“ gab es regelmäßig kurze Meldungen zur Hochschulpolitik und aus den anderen Korporationsverbänden. Unter „Bücherschau“ wurden in jedem Heft kurz und knapp interessante Neuerscheinungen vorgestellt. Unter „Bekanntmachungen“ wurde zu Stiftungsfesten, Philistertagen usw. eingeladen. Unter „Anzeigen“ fanden sich sowohl Familienanzeigen – Verlobungen, Vermählungen, Geburten, Todesnachrichten – als auch geschäftliche Werbeanzeigen. Unter der Überschrift „Schwarzes Brett“ wies man sich gegenseitig auf offene Stellen hin oder gab eigene Stellengesuche auf. Bei Bedarf gab es auch noch weitere Rubriken für Inserate und Kurzmeldungen: „Vom Grenz- und Auslandsdeutschtum“ war eindeutig politisch geprägt und richtete den Blick vor allem auf die mit dem Weltkrieg verlorenen Gebiete. Unter „Tagungen“ wurden sowohl politische als auch religiöse Veranstaltungen von außerhalb des Wingolfs gemeldet: Christliche Akademikerversammlungen wurden hier ebenso aufgeführt wie „Bismarck-Tage“.

Wichtig war auch die in jedem Heft vorzufindende Rubrik „Wingolfs-Stammrolle“. Hier wurden Anschriftenänderungen, Neuzugänge, bestandene Prüfungen, Philistrationen, Austritte usw. bekanntgegeben. So konnte jeder Wingolfit sein gedrucktes Vademecum, für das es eigens eine Ausgabe mit zusätzlich eingeschossenen Leerseiten gab, handschriftlich ergänzen und korrigieren. In einer Zeit ohne Internet, Wingolfsplattform und andere uns heute selbstverständliche Kommunikationsmittel, war es unerlässlich, auf diese Dinge einige Zeit zu verwenden, wenn man untereinander bundesweit in Kontakt bleiben wollte.
Will man sich ein Bild von einer Zeitschrift, ihrer Leserschaft und ihrer Zeit machen, ist der Blick in die Anzeigenteile oft ebenso ergiebig wie der in den redaktionellen Teil. Was wurde also zum Beispiel beworben? Auf die Reklame für Weine sowie für Mittelmeer- oder Orientreisen wurde bereits oben hingewiesen. Doch solche Inserate waren eher die Ausnahme. Verbreiteter war die Werbung für Sanatorien und Kurhäuser, für Versandbuchhandlungen und für Internate mit gymnasialer Ausbildung sowie für Haushaltungsschulen, die um „Wingolfstöchter“ warben. Versicherungen und Versicherungsmakler inserierten ebenso wie Anbieter von Couleurausstattungen.

An Stellen wurden am „Schwarzen Brett“ Positionen als Lehrer, als angestellter Rechtsanwalt oder Assistenzarzt angeboten. Aber auch die Töchter von Wingolfsphilistern wurden als „Haustochter“ umworben – heute würde man wohl eher von „au pair“ sprechen. Ab und zu gab es auch exotischere Stellenausschreibungen. Aus welchen Gründen auch immer zeigt sich hier besonders der Blick auf das Jahr 1931 ergiebig. So heißt es zum Beispiel in Heft 8: „Hauslehrer gesucht nach China (Küstenstadt zwischen Hongkong und Schanghai) zu 6-jährigem Knaben für Unterricht der ersten 3-4 Schuljahre“. Und im Oktoberheft desselben Jahrgangs findet sich folgendes interessante Inserat: „Junger Tierarzt als Hoftierarzt gesucht von einem Maharadscha Indiens. Erfahrung in Hundepraxis Bedingung. Freie Hin- und Rückfahrt, monatl. 1500 M, wahrsch. Wohnung u. Verpflegung frei, Vertrag zunächst auf 2 Jahre.“

Der Weg in den Nationalsozialismus

Über das Verhalten des Wingolfs und einzelner Wingolfiten angesichts des erstarkenden Nationalsozialismus ist viel geschrieben worden – darüber, wie er dem Regime verfiel, ebenso wie über die leider viel zu seltenen Fälle, in denen er sich widerständig zeigte. Hierzu sei insbesondere verwiesen auf die „Geschichte des Wingolfs“, auf den ausführlichen Artikel von Hans Christhard Mahrenholz (G Nstft 47, Hv Nstft 52) zur „Einführung des Arierparagraphen im Wingolf nach 1933“ in „Einst und Jetzt“ und vor allem auf die 1996 in Buchform erschienene Magisterarbeit von Ingo Zocher (Mst 86, Je Nstft 90), die sich explizit der politischen Verortung des Wingolfsbundes in der Zeit zwischen 1918 und 1935 widmet. Auch die Wingolfsblätter nach 1945 haben sich immer wieder mit diesem dunklen Teil der Wingolfsgeschichte beschäftigt.
Im Folgenden soll es also nicht um eine umfassende Aufarbeitung der Geschichte jener Zeit gehen, sondern vielmehr um die Frage, was davon sich in den zeitgenössischen Wingolfsblättern niederschlägt.

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass bereits in den Jahren der Weimarer Republik immer wieder antidemokratische, antisemitische und völkische Äußerungen in den Wingolfsblättern auftauchen – mal ganz offensichtlich, mal eher versteckt. Genauso ist aber auch festzuhalten, dass es auch Widerspruch zu solchen Aussagen gibt. Zudem ist es keineswegs so, dass die Verfasser der einzelnen Beiträge immer eindeutig in die Schublade „Nazi“ oder „Nicht-Nazi“ einzuordnen wären. Einige Beispiele sollen das verdeutlichen:

1924 erscheint ein Beitrag des Theologen und zeitweiligen DNVP-Politikers Karl Bernhard Ritter (Hg 09, H 10 et al.) mit dem Titel „Vom Wesen deutscher Politik“. Darin schreibt er: „Seit 1914 hat der große Kampf der westlich-demokratischen gegen die völkisch-konservative Idee, der Kampf der Ideen der Französischen Revolution gegen die Idee des deutschen Idealismus, der materialistischen gegen die deutschchristliche Weltformung die offenen Formen des Völkerkrieges angenommen.“ Hier zeigt sich noch einmal, was oben bereits mehrfach deutlich wurde, dass das parlamentarisch-demokratische System im Wingolf ebenso wenig wie in weiten Teilen der Bevölkerung auf ungeteilte Zustimmung stieß, sondern von vielen als von den Siegermächten des Weltkrieges oktroyierte Staatsform wahrgenommen wurde. Diese Haltung und der von Ritter aufgebaute Gegensatz entsprachen durchaus der Haltung der Nationalsozialisten. Und doch gehörte Ritter später zur Bekennenden Kirche und versuchte, nationalsozialistische Übergriffe auf die kirchliche Eigenständigkeit abzuwehren.

Stärker noch erschrecken den heutigen Leser der Wingolfsblätter jener Jahre die judenfeindlichen Äußerungen. Manchmal sind diese ganz beiläufig-selbstverständlich eingeflochten. So etwa, wenn es 1919 in einem Artikel zu der Frage, ob sich Angestellte gewerkschaftlich organisieren sollten, heißt: „Auch die Ausführungen von Dr. Friedländer in der deutschen Techniker-Zeitung sind mir bekannt. Für mich kann aber keine talmudische Logik aus dem Streik eines Angestellten etwas anderes machen als einen Vertragsbruch.“

Judenfeindlichkeit kommt aber auch deutlich expliziter in den Wingolfsblättern vor: So werden mehr oder weniger unkommentiert die Beschlüsse des 2. Deutschen Akademikertages abgedruckt, der vom 15. bis zum 19. April 1925 in Elberfeld stattfand. Dort heißt es unter anderem, die Zugehörigkeit zu einem Volke mache sich an dem „Vorhandensein bestimmter körperlicher und geistiger, rassischer Eigenschaften, durch die Blutsgemeinschaft mit den art- und wesensgleichen Volksgenossen“ fest. Darauf fußend werden dann Änderungen in der Gesetzgebung gefordert, die in Teilen den zehn Jahre später von den Nazis in den Nürnberger Rassegesetzen beschlossenen Bestimmungen auf fatale Weise ähneln: „Als Juden (…) gelten die deutschen Staatsbürger, die einer mosaischen Glaubensgemeinschaft angehören oder deren Väter und Mütter einer solchen angehört haben. Deutsche, die eine Ehe mit Juden oder Jüdinnen eingehen, gelten samt ihren Abkömmlingen als Juden. (…) die Einwanderung von Juden, insbesondere von Ostjuden, ist überhaupt nicht mehr zu gestatten. Die nach dem 1. August 1914 eingewanderten sind wieder abzuschieben. (…) Der Überfremdung der deutschen Hochschulen durch jüdische Lehrkräfte und Studierende ist ein Riegel vorzuschieben. Weitere Lehrer jüdischer Abstammung sind nicht mehr zu berufen. Für die Studierenden ist der „Numerus clausus“ einzuführen. (…) Wir fordern die amtliche Aufrollung der Frage, inwieweit die Juden an dem Zusammenbruch des deutschen Volkes Schuld tragen, wer die Führer der November-Revolution waren und wer die Führer der marxistischen Bewegungen von jeher gewesen sind.“ Rodenhauser hatte bereits einige Wochen zuvor dem vom „Verband Deutscher Akademiker“, einem Zusammenschluss der „völkisch“ gesonnenen Akademikerverbände des deutschen Sprachgebiets, getragenen 2. Deutschen Akademikertag und seinen Beschlüssen ein positives Zeugnis ausgestellt: „Völkisch ist die zweite Forderung. Es ist zu beklagen, daß dieses Wort unter dem alle Deutschgesinnten sich finden sollten, heute weite Kreise unseres Volkes mit dem Argwohn gegen Radikalismus, Überspanntheit, Wildheit und Putschgelüsten schreckt. Diese Bewegung will das Wort in seiner ursprünglichen Reinheit nehmen, die völkische Idee verfechten, die gewiß das Wertvollste ist, das uns in den letzten Jahren nicht nur materieller, sondern auch geistiger Armut gegeben oder wiedergegeben wurde: die Erkenntnis von Wesen und Wert eines Volkes, die Pflicht seinem, unserm deutschen Volk zu dienen (…) So ist die völkische Idee dieser Bewegung weniger ein politisches Programm als eine ethische Forderung.“

Einen Schritt weiter ging im Februar 1931 die Aktivitas des Rostocker Wingolfs, die folgende Bekanntmachung veröffentlichte „An alle unsere Philister und Inaktiven! § 4 Absatz II unserer Satzungen heißt jetzt: ‚Ordentliches Mitglied kann jeder Student arischer Abstammung werden, der …“ Diese Bekanntmachung des Rostocker Wingolfs entsprach dem Verhalten vieler nicht-wingolfitischer Korporationen und Dachverbände. Dennoch reagierte die Rostocker Wingolfsphilisterschaft eindeutig ablehnend und erklärte in den Wingolfsblättern: „Die Rostocker Verbindung hat, uneingedenk der von ihr übernommenen Verpflichtung, in allen wichtigen Angelegenheiten vor der Beschlußfassung mit dem örtlichen Philisterausschuß Fühlung zu nehmen, ohne unser Wissen zu § 4 der Satzung den in den Wingolfsblättern bekanntgegebenen Zusatz beschlossen, durch den die Aufnahme eines Mitglieds von seiner ‚arischen Abstammung‘ abhängig gemacht wird. Die bedauerliche, eilfertige Veröffentlichung dieses Beschlusses, der für uns eine völlige Überraschung bedeutete, zumal da ein in früherer Zeit gefaßter gleichartiger Beschluß infolge einer inoffiziellen Einwirkung unsererseits nicht zur Ausführung gelangt ist, hat uns sofort veranlaßt, nach Anhörung des X Einspruch zu erheben und die Verbindung um Rückgängigmachung des Beschlusses zu ersuchen. Nachdem die Aktivitas dies am letzten Tage ihres Wintersemesters abgelehnt hat, behalten wir uns weitere Schritte vor, die erst zu Beginn des Sommersemesters erfolgen können.“

Insgesamt hatte das Erstarken des Nationalsozialismus auch in den Wingolfsblättern eine intensivere Auseinandersetzung mit diesem zur Folge. Dabei gab es häufige, aber bei Weitem nicht durchgehende Zustimmung. So setzte sich beispielsweise Heinrich Hüffmeier (Gd 19, T 19 et al.) mit der von dem nazikritischen Prof. Dr. Helmuth Schreiner (H 11, Bo 14 et al.) verfassten Broschüre „Der Nationalsozialismus vor der Gottesfrage“ auseinander und schrieb: „Es gibt keine Brechung der Zinsknechtschaft ohne Beseitigung der Tributlasten, ohne Lösung der Judenfrage (…) In der Judenfrage handelt es sich wirklich um völkische Verantwortung vor Gott.“ Und etwas später heißt es im selben Artikel: „Selbst, wenn die Gefahr des Nationalsozialismus so groß wäre, wie Schreiner sie vom Evangelium aus sieht, kann diese Bewegung in Gottes Hand ein brauchbares Werkzeug sein, seinen Willen zu vollführen.“ Schreiner, gegen den Hüffmeier hier anschreibt, war übrigens Mitglied der „Jungreformatorischen Bewegung“, die am 9. Mai 1933 in einem Positionspapier schrieb: „Wir lehnen im Glauben an den Heiligen Geist grundsätzlich die Ausschließung von Nichtariern aus der Kirche ab.“ Aufgrund seiner eindeutigen Haltung wurde Schreiner im September 1933 von seinem Professorenamt – er war Professor für Praktische Theologie in Rostock – suspendiert und 1937 ganz des Amtes enthoben.

Die Kontroverse zwischen Schreiner und Hüffmeier ist nicht der einzige in den Wingolfsblättern ausgetragene Konflikt, wenn es um die Positionierung zum Nationalsozialismus geht. Wie groß die Bandbreite ist, zeigt etwa auch folgende Debatte: In der Januarausgabe des Jahres 1932 erscheint unter der Überschrift „Christentum und Nationalsozialismus – Persönliches Bekenntnis eines Nichttheologen“ ein Artikel von Dr.-Ing. Johannes Müller (Mch 24, Dr Stft 24), in dem dieser unter anderem von der Kirche fordert, sich nicht so sehr an Äußerlichkeiten zu stoßen, sondern sich auf diesen einzulassen: „Sieh, deutsches Volk, wir beide gehören zusammen, unserer beider Zukunft hängt davon ab, ob wir uns zu einer lebensvollen, organischen Einheit, zu einer wirklichen Volkskirche zusammenfinden (…) Dein nationaler Lebenswille, der so mächtig jetzt aus den Tiefen deines Volkstums hervorbricht, muß auch in den Reihen der Kirche ganz tief erlebt werden.“ Diesem Artikel widerspricht einige Ausgaben später Wolfgang Noth (Dr Stft 1927) vehement. Müller zitierend fragt er dabei unter anderem: „Sind nun die Angriffe gegen die Bibel wirklich noch Äußerlichkeiten? Muß es nicht auch zu denken geben, daß Luther, dem ‚Deutschesten aller Deutschen‘ gerade durch ein Wort des ‚Juden‘ Paulus die Erleuchtung gekommen ist?“

Wingolfsblätter in der Diktatur

Es wurde deutlich, dass bis 1933 unterschiedliche Positionen zum Nationalsozialismus in den Wingolfsblättern vertreten wurden. Es gab sowohl entschiedene Befürworter als auch (wenn vermutlich auch in geringerer Zahl) entschiedene Gegner des Nationalsozialismus. Und es gab solche, die manchen der im Nationalsozialismus vertretenen Gedanken zuneigten, während sie andere Aspekte vehement ablehnten. Sie alle kamen in den Wingolfsblättern zu Wort. Mit der „Machtübernahme“ am 30. Januar 1933 änderte sich das. Es war nun unmöglich geworden, öffentliche Kritik am Nationalsozialismus zu üben, ohne die persönliche Freiheit und körperliche Unversehrtheit zu riskieren sowie den Bestand des Wingolfs insgesamt zu gefährden.
Verwunderlich ist zunächst einmal, dass in den ersten beiden Heften nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler überhaupt nicht auf die politischen Ereignisse eingegangen wird. Das ändert sich erst im April 1933. Anlass ist der „Tag von Potsdam“, an dem Reichspräsident Hindenburg als Vertreter des „alten, bürgerlichen Konservativismus“ einerseits und Reichskanzler Hitler als Vertreter des „neuen“, sich „revolutionär“ gebenden Nationalsozialismus andererseits, sich öffentlichkeitswirksam einander die Hände reichten. Die Wingolfsblätter begrüßten diese Entwicklung mit einer auffallend anders gesetzten Titelseite. Unter der Überschrift „Das neue Reich“ schreibt Rodenhauser hier: „Wir grüßen die Fahne des Hakenkreuzes, das Banner der revolutionären Bewegung, die mit dieser Erhebung unseres Volkes ihren Sieg erfochten hat.“

In ähnlicher Aufmachung erfolgt dann im Juni desselben Jahres, die Information darüber, dass der Wingolf wie von den Nationalsozialisten gefordert das Führerprinzip übernommen und Robert Rodenhauser zu seinem Bundesführer gewählt habe. Auf die Titelseite folgt dann die Dokumentation der Ansprachen des VAW-Vorsitzenden Wilhelm Lütkemann (M 10, G 12 et al.) und Rodenhausers selbst sowie der Ergebenheitstelegramme an Hindenburg und Hitler.

Ein Versuch, die nach 1933 in den Wingolfsblättern erschienenen Artikel zu klassifizieren, könnte folgendermaßen aussehen:

Da sind zum einen die offiziellen Verlautbarungen, die Erläuterungen, die Rodenhauser abzugeben gezwungen war und die Beiträge offizieller nationalsozialistischer Funktionäre. Als Beispiele für diese Kategorie von Artikeln lassen sich anführen: die „Richtlinien für die Gestaltung des Führergrundsatzes in den Wingolfen“, die Artikel Gerhard Krügers, des „Führers der Deutschen Studentenschaft“, oder die Verfügung zur Unterstellung sämtlicher Korporationen und der gesamten deutschen Studentenschaft unter den Reichsführer des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes (NSDStB).

Dann gibt es Verlautbarungen, die Rodenhauser im Namen des Wingolfs tätigt, um den Machthabern zu huldigen. Diese sind sicherlich nur zum Teil innerste Überzeugung, zu einem großen Teil aber eher taktischen Überlegungen geschuldet. Als Beispiel wäre hier zu nennen: das „Bekenntnis zum Führer“ zum 30. Januar 1934, dem „Jahrestag der Revolution, der großen Wende deutscher Geschichte“.

Eine weitere Kategorie sind die Beiträge von Verfassern, die nationalsozialistisch denken und sich positiv über einzelne Themen äußern. So wird der Anschluss des Saargebiets im Mai 1933 mit einem begeisterten Sonderheft gefeiert. Aber auch darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von Beispielen, von denen einige den heutigen Leser gruseln lassen: Herbert Sekeler (T 32) begrüßt ausdrücklich die Umwandlung der Verbindungshäuser in „Kameradschaftshäuser“. Dr. Richard Hartig (Kö 23, M 25) äußert volles Verständnis für die „Gleichschaltung“ der Verbindungen. In den Heften 3 und 4 des Jahres 1934 widmen sich mehrere Artikel der „Eugenik“ und äußern sich zustimmend zur Sterilisation von Kranken. Pfarrer i. R. H. List sieht diese sogar als Christenpflicht an: „Wir haben den Kampf gegen alles Gemeine in der Welt, den Kampf auch gegen Entartung und Gebrechen zu führen mit allen Mitteln, die Gott selbst durch unseren Verstand uns an die Hand gibt. Vielleicht ist die Eugenik ein solches Mittel (…) Und da sollten wir als Christen mit kleinlichen Bedenken beiseite stehen und wie so oft den Strom der Entwicklung über uns hinweggehen lassen?“

Wie so oft, sind die Dinge auch hier nicht nur Schwarz und Weiß. Das zeigt sich etwa bei den Artikeln von Hansgeorg Schroth, der sich einerseits entschieden gegen „Neuheidentum“ und Blut-und-Boden-Ideologie wendet, andererseits unter der Überschrift „Luthers Einstellung zu Juden und Judentum“ auch deutlich judenfeindliche Ansichten erkennen lässt.

Die Wingolfsblätter – vor allem die vertrauliche Beilage, ab 1934 Wingolfs-Nachrichten – genannt, spiegeln aber auch den Kampf Rodenhausers um das Überleben des Wingolfs. Ein dunkles Kapitel ist in diesem Zusammenhang vor allem die Tatsache, dass man sich trotz einigen internen Widerspruchs doch relativ schnell dazu bereitfand, seine jüdischstämmigen Bundesbrüder auszuschließen. Dass dies keineswegs Rodenhausers innerer Überzeugung entsprach, lassen seine Worte in den Wingolfs-Nachrichten vom Juni 1934 erahnen: „Wir haben nach den Vorschriften der Studentenschaft den Arierparagraphen durchgeführt. Ich will nicht viel davon sprechen, um Wunden nicht aufzureißen. Wir haben getan, was die Bestimmungen verlangten.“ Um die Verwerfung des Duells wurde intensiver gekämpft, doch letztlich war dies alles vergebens. Weil er sich weigerte, sein Duellverbot aufzugeben, blieb dem Wingolfsbund im Februar 1936 keine andere Wahl, als sich selbst aufzulösen. Aber auch davon abgesehen ist die Zeit der studentischen Korporationen vorerst zu Ende.

Im Februar 1936 erscheint die letzte Ausgabe der Wingolfsblätter. Verbandszeitschriften, die eine gewisse Öffentlichkeit anstreben, sind von nun an verboten. Lediglich die Wingolfsnachrichten als internes Mitteilungsblatt können (zunächst) weiter erscheinen. Gleichzeitig ist es auch mit den Verbindungen mehr oder weniger zu Ende. In den Wingolfsnachrichten erscheinen nun Abschiedsreden wie diejenige, die Prof. Dr. Hermann (?) Strathmann (T 01, H 02, E 19?) im Anschluss an den Erlanger Philisterconvent vom 23. März 1936 hielt: „Nun sollen die studentischen Korporationen nicht mehr sein. Obwohl der Angriff eigentlich anderen Korporationen mit gänzlich anderem Charakter gilt, trifft er doch auch unseren Wingolf. Wir werden uns wohl besorgt die Frage vorlegen, wie denn das, was damit an wichtigen Gemeinschaftswerten verlorengeht, ersetzt werden soll, ob es möglich sein wird, Gleichwertiges an die Stelle zu setzen, was ebenso inneren Halt gewährt und eine innerlich begründete Gemeinschaft ermöglicht? Aber die Verantwortung für das Kommende tragen wir nicht.“

Unter den gegebenen Umständen ist an eine Unterhaltung des Generalsekretariats nicht mehr zu denken, und so teilt Rodenhauser im Januar 1937 mit, dass er eine neue Stelle angetreten habe. Ehrenamtlich betreut er die Wingolfsnachrichten weiter. Die Artikel jener Zeit bezeugen das Bemühen, den alten Wingolfsgedanken und den Zusammenhalt so gut wie möglich zu pflegen. Zu einem wichtigen Kristallisationspunkt wird dabei der Wingolf zu Wien, der noch existieren kann. Im Februar 1937 geht die Wiener Aktivitas auf „Deutschlandfahrt“ und wird überall, wo sie hinkommt, von den ortsansässigen Wingolfiten begeistert empfangen und aufgenommen. Der Bericht über diese Fahrt nimmt in der Märzausgabe der Wingolfsnachrichten breiten Raum ein.

Noch kann es Philistertage mit Kneipen geben, zu denen in den Wingolfsnachrichten eingeladen wird, und sogar ein „Wartburgtreffen“ kann im Mai 1937 noch stattfinden. Die Wingolfsnachrichten vom Juni 1937 berichten darüber. Doch die Situation wird zunehmend schwieriger: Da kleinere GmbH sich aufgrund neuer gesetzlicher Bestimmungen auflösen müssen, ist auch der Wingolfsverlag an ein Ende gekommen. Der Verband Alter Wingolfiten (VAW) darf als Verein nicht als Herausgeber einer Zeitschrift tätig werden. Rodenhauser verhandelt vergeblich mit den Behörden und dem Reichsverband Deutscher Zeitschriftenverleger und findet schließlich eine Lösung, die dann jedoch von der weiteren Entwicklung überholt wird.

Im März 1938 feiern die Wingolfsnachrichten begeistert den „Anschluss“ Österreichs. Für den Wingolf bedeutet das aber auch, dass das geplante 10. Stiftungsfest des Wingolfs zu Wien abgesagt werden muss. Die in den Wingolfsnachrichten angekündigte gemeinsame Fahrt nach Wien entfällt somit.

Im Juli 1938 melden die Wingolfsnachrichten das Verbot sämtlicher katholischer Studenten- und Altherrenverbände. Es ist absehbar, dass den VAW ein ähnliches Schicksal treffen wird. Darüber aber können die Wingolfsnachrichten nicht mehr berichten, denn vorher ereilt sie selbst das behördliche Verbot. In der letzten Ausgabe vom 15. September 1938 gibt ihnen Walter Lütkemann sozusagen das letzte Geleit: „Nun steht der Abschied vor der Tür. Wenn Du diese Blätter gelesen hast, mein Wingolfsbruder, dann leg sie zu den Erinnerungen. Einst hießen sie „Wingolfsblätter“ und waren die Zeitschrift des Wingolfsbundes. Nach Auflösung der studentischen Korporationen und damit auch unseres Bundes durften sie noch als Nachrichtenblatt des Verbandes Alter Wingolfiten, als „Wingolfsnachrichten“ erscheinen. Nun stellen sie – gleichzeitig mit den letzten aller ehemaligen Verbandszeitschriften – auch in dieser Form ihr Erscheinen ein. Mit dem Gesamtverband Alter Wingolfer müssen sie dem Neuen weichen, das auch in der akademischen Altherrenwelt Totalität beansprucht. Niemand wird uns schelten, daß der Abschied uns schmerzt, wie wenn wir den treuesten Freund ins Grab legten.“

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Zur 150-jährigen Geschichte der Wingolfsblätter (1872–1918)

Zur 150-jährigen Geschichte der Wingolfsblätter (1872–1918)

„Sie wollen keine Preßfreiheit, weil sie glauben, der Wind drehe sich nach der Wetterfahne“ – so spottete der Dichter und Journalist Ludwig Börne (1786–1837), einer der wichtigsten Vorkämpfer für Demokratie in Deutschland, einst über die Gegner der liberalen Bewegung. Mit diesen Worten spricht Börne, ein Dilemma an, dem sich jedes Medium, jeder Journalist immer wieder von Neuem stellen muss: Wind oder Wetterfahne?

In welchen Phasen ihrer Geschichte die Wingolfsblätter eher „Wind“ in welchen eher „Wetterfahne“ waren, dieser Frage soll in dem folgenden Beitrag zur Geschichte der Wingolfsblätter nachgegangen werden.

Der Beitrag erschien im Original in den Wingolfsblättern 3/23 auf den Seiten 13–20. Autor ist Andreas Rode (Mz 88, Br 89, Mch 08).

Gründerzeit und Gründerkrach

Die ersten Ausgaben der Wingolfsblätter präsentieren vor allem das Thema, das die Leser in Deutschland damals wohl am meisten beschäftigt haben dürfte: den Deutsch-Französischen Krieg und die Reichsgründung. „Erlebnisse Berliner Wingolfiten im Deutsch-Französischen Kriege 1870–71“, so ist der Hauptartikel überschrieben. Es folgen ein kriegerisch-patriotisches Gedicht über den Kampf um La Bouget (vgl. den Beitrag von Felix Plapper (Ef 22, Hg 22) in Wbl. 1/2023, S. 33f.) sowie eine tabellarische Übersicht über die Kriegsbeteiligung von Wingolfiten. Der Schrecken des Krieges kommt hier zur Sprache, vor allem aber auch die nationale Begeisterung, die mit dem Sieg und der folgenden Reichseinigung verbunden ist.
„Gründerzeit“ nennen Historiker die Jahre von 1871 bis 1873 nicht nur, weil es die Zeit der Reichsgründung war, sondern auch, weil im Zuge des ökonomischen Aufschwungs und der fortschreitenden Industrialisierung unzählige Firmen und Unternehmungen gegründet wurden. Es war eine Phase wirtschaftlicher Blüte, die mit dem sogenannten „Gründerkrach“, gipfelnd im Wiener Börsenkrach am „Schwarzen Freitag“, dem 9. Mai 1873 ihr vorläufiges Ende fand.

Die Begriffe „Gründerzeit“ und „Gründerkrach“ lassen sich aber auch für die Wingolfsblätter in jener Zeit verwenden: Dass der erste Schriftleiter, Felix Mühlmann (H 1867, Be 1869, Kg 21) bereits im Dezember 1871 eine vollständige „Probeausgabe“ produzierte und wingolfsweit versandte, war nicht zuletzt den wirtschaftlichen, technischen und gesellschaftlichen Veränderungen der Zeit zu verdanken: Die Industrialisierung hatte auch Veränderungen in der Drucktechnik mit sich gebracht. Der schnelle Druck großer Auflagen war möglich geworden und zugleich hatten zunehmende Alphabetisierung und das Streben nach politischer Emanzipation auch für eine Veränderung und ein Anwachsen der Leserschaft gesorgt. Ob Konservative, Liberale oder Sozialdemokraten; ob Katholiken, die sich in dem von Preußen dominierten Reich unterrepräsentiert fühlten, oder Protestanten – sie alle versuchten ihre Anhänger durch eigene Zeitungen zu mobilisieren. Der einflussreiche Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811–1877), bekannt als geistiger Vater der katholischen Soziallehre und Gegner des vom Ersten Vatikanischen Konzil verkündeten Unfehlbarkeitsdogmas, brachte es folgendermaßen auf den Punkt: „Der Einfluß der Presse auf die Entwicklung aller Verhältnisse der Gegenwart, auf die Denkweise und Gesinnung der Menschen ist unermeßlich und fortwährend im Wachsen.“

Der Wingolf hatte währenddessen seine eigene „Gründerzeit“ erlebt. Am Ersten Schleizer Konzil, bei dem der Name Wingolf angenommen wurde, hatten 1844 noch drei Vereine teilgenommen: Halle, Berlin und Erlangen (Uttenruthia, die nach einer Spaltung 1850 als Erlanger Wingolf neugegründet wurde). Hinzu kam Bonn, wo die Einladung zum Konzil nicht eingetroffen war. 27 Jahre später, als Mühlmann seine „Probenummer“ erscheinen ließ, waren – ungeachtet diverser Spaltungen, Auflösungen und Wiedergründungen – über zehn Wingolfsverbindungen hinzugekommen: Marburg (1847), Erlangen (1850), Rostock (1850), Dorpat (1850), Heidelberg (1851), Gießen (1852), Leipzig (1855), Straßburg (1857), Tübingen (1864), Greifswald (1867), Göttingen (1867) und Breslau (1871). Entsprechend war auch die Zahl der Wingolfiten gewachsen. Das stellte an die Kommunikation der Wingolfiten untereinander ganz neue Herausforderungen. Damit, sich von Zeit zu Zeit zu treffen und gelegentlich einen Rundbrief zu schreiben, war es nun nicht mehr getan. Kein Wunder also, dass Felix Mühlmann auch eine eigene Zeitschrift des Wingolfs für wünschenswert hielt.

Die erste „offizielle Ausgabe“ erschien am 30. Januar 1872 – acht Seiten in einem Format, das dem heutigen DIN-A4-Format (des es damals noch nicht gab) ähnlich ist. Die folgenden Ausgaben der zunächst in sechswöchigem, dann in zweiwöchigem Rhythmus, erscheinenden Wingolfsblätter waren dann etwas umfangreicher.

Auch ihren eigenen „Gründerkrach“ hatten die Wingolfsblätter zu bieten: Wingolfsverbindungen wie der hessische Marburger Wingolf oder der sächsische Leipziger Wingolf fürchteten, dass die preußische Dominanz im eben entstandenen deutschen Kaiserreich auch im Wingolf Wurzeln schlagen könnte. In dieser Situation sahen nun die einen in den Wingolfsblättern eine willkommene Diskussionsplattform, die anderen sahen die Gefahr, dass die Wingolfsblätter, deren erste drei Schriftleiter Berliner Erstbandträger waren – eine allzu einseitige Ausrichtung vertreten könnten. Das führte bereits auf dem Wartburgfest 1874 zu erbitterten, zum Teil wohl auch lautstarken Streitigkeiten. Ergebnis war, dass der Bund seinen Aktiven verbot, in den Wingolfsblättern öffentlich Stellung zu Prinzipfragen zu beziehen oder eine mögliche Veränderung am Ablauf von Verbindungs- und Bundesinstituten zu diskutieren. Auf diese Weise sollte der im Wingolf virulente Streit um das Für und Wider der „Kaiserrede“ aus den Wingolfsblättern herausgehalten werden.

Der Wingolf und die Wingolfsblätter stabilisieren sich

Bis 1913 sollte es dauern – dann erst wurde das oben beschriebene Verbot aufgehoben, wohl sehr zur Freude des ausgesprochen kaiserbegeisterten, von 1885 bis 1913 amtierenden Schriftleiters Wilhelm Sarges (Be 1869, M 1872 et al.). Zwar war der große Teil der Wingolfiten – und auch der Wingolfsverbindungen – „kaisertreu“, doch gab es einzelne Wingolfiten und Wingolfsverbindungen, die dezidiert andere Auffassungen vertraten. So kam es immer wieder zu Diskussionen und Zwistigkeiten um theologische und politische Fragen, die den Wingolf mehr als einmal an seine Grenzen brachen – bis hin zur zeitweiligen Auflösung vom Februar 1877 bis zum Mai 1880. All das spiegelt sich natürlich auch in den Wingolfsblättern, denn selbst wenn sich alle Aktiven an das oben beschriebene Verbot hielten, so galt dieses ja nicht für die Philister. Da man sich sehr wohl bewusst war, dass die Wingolfsblätter auch außerhalb des Bundes gelesen wurden und in öffentlichen Bibliotheken einsehbar waren, führte man für solche interne Diskussionen eine vertrauliche Beilage ein.
Auch wenn weiterhin in engagierter Weise debattiert wurde, so blieb es doch (zumindest meist) bei einem bundesbrüderlichen Ton. Die Wingolfsblätter etablierten sich zunehmend als Berichts- und Diskussionsmedium des Wingolfs. Dazu trug sicherlich auch bei, dass die Philister, die in den Anfangszeiten mehr oder weniger ein Anhängsel der aktiven Verbindungen gewesen waren und deren Status nicht endgültig geklärt war, sich zunehmend stärker organisierten: Aus Philistertagen, über die auch in den Wingolfsblättern berichtet wurde, entwickelten sich festere Strukturen bis hin zum 1901 gegründeten Verband Alter Wingolfiten (VAW) mit seinen Bezirksverbänden. Aber auch die Aktiven legten nach und nach ihre anfängliche Skepsis gegenüber den Wingolfsblättern ab. 1887 wurden die Wingolfsblätter als offizielles Organ des Wingolfsbundes (den VAW gab es ja noch nicht) anerkannt und auf dem Wartburgfest 1889 wurde eine „Preßkommission zur Unterstützung der Schriftleitung“ bestellt.

Im Vergleich zu den Anfangszeiten hatten die Wingolfsblätter inzwischen ein anderes Gesicht: Format und zweiwöchiger Erscheinungsrhythmus waren zwar gleichgeblieben, doch inhaltlich hatte sich einiges verändert: Zum einen waren die Themen der Beiträge wesentlich breiter gefächert. Offenbar schlug sich hier nieder, dass der Anteil der Theologen im Wingolf nun deutlich geringer geworden war, während die Zahl der Juristen, Mediziner, Philologen usw. angestiegen war. Zudem gab es seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auch Technische Hochschulen und Handelshochschulen, an denen sich Wingolfsverbindungen gründeten. Nach einigem Hin und Her war man bereit gewesen, auch die Studenten dieser Hochschulen als Wingolfiten zu akzeptieren, wenn man auch vielerorts zunächst fein säuberlich in einen „Universitätswingolf“ und einen „Technischen Wingolf“ trennte, sodass in Städten wie Berlin, Breslau oder München erstmals mehrere Wingolfsverbindungen nebeneinanderher existierten. Wie auch immer: Der Mitgliederbestand des Wingolfs und damit auch die Leserschaft der Wingolfsblätter war deutlich vielfältiger geworden. Angesichts dieser Veränderung sowie der Tatsache, dass sich eine „Freistudentenschaft“, die sogenannten „Finken“ herausgebildet hatte, die die Mitgliedschaft in einer Verbindung grundsätzlich nicht mehr als unbedingt erstrebenswert erachtete, fand auch im Wingolf ein Wandel statt: Erstmals gab es neben korporativen und religiösen Veranstaltungen auch Vorträge und sogenannte „wissenschaftliche Unterhaltungsabende“ in den Semesterprogrammen. Das schlug sich auch in den Wingolfsblättern nieder. Wolfhard Weber (M 59) schreibt dazu in der 1998 von Manfred Wieltsch (M 62) herausgegebenen „Geschichte des Wingolfs“: „Schließlich öffnete der Bund 1912 die Wingolfsblätter der allgemeinen offenen Diskussion über studentische Fragen insgesamt“ (S. 139). Weber weist an dieser Stelle auch ausdrücklich darauf hin, dass es bereits zuvor Beiträge in den Wingolfsblättern gegeben habe, die man in der Zeitschrift eines Korporationsverbandes jener Zeit nicht unbedingt habe erwarten können – so etwa einen, wenn auch nicht vorurteilsfreien Beitrag mit dem Titel „Die Sozialdemokratie und die deutsche Studentenschaft“ (Wbl. 1894, Nr. 14, S. 97ff.).

Noch etwas anderes hat sich ebenfalls verändert: In den Wingolfsblättern jener Zeit finden sich viele Inserate unterschiedlichster Natur: Familienanzeigen und Ankündigungen wingolfitischer Veranstaltungen standen selbstverständlich bereits vorher im Blatt, doch jetzt sind diese Anzeigen durch grafische Elemente wie Pfeile oder Rahmen aufbereitet. Hinzukommen aber auch Stellenangebote und Stellengesuche. Wingolfiten suchen Geschäftsbeziehungen und dienen sich der Leserschaft als Rechtsanwalt, Kurarzt oder Buchhändler an. Pfarrer bieten eine Sommerfrische in ihrem „idyllisch gelegenen Pfarrhaus“ an, Apotheker empfehlen ihre „photographischen Apparate und alle zugehörigen Bedarfsartikel“ – und so weiter und sofort. Kurz: Die Wingolfsblätter sind modern geworden.

Die „Witzblätter“

Dass dennoch nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen war, erkennt man unter anderem daran, dass 1911 ein (vergeblicher) Versuch unternommen wurde, zusätzlich zu den Wingolfsblättern eine „literarisch-politische Vierteljahresschrift“ des Wingolfs zu gründen. Offenbar waren einigen Philistern die Wingolfsblätter nicht ernsthaft und intellektuell genug. Nun, die ambitionierte Vierteljahresschrift hat es, wie gesagt nicht gegeben. Dafür erschien jedoch am 6. Juni 1911 ein ganz anderes wingolfitisches Druckwerk, das hier unbedingt erwähnt werden muss: Die „Witzblätter – Zeitschrift zum Wartburgfest, gegründet und redigiert von erstklassigen Kräften“. Hier wird die geplante „Vierteljahresschrift“ ordentlich auf die Schippe genommen. Der angebliche Vorort Würzburg (wo es 1911 noch längst keinen Wingolf gab) hat in seinem Festprogramm zum Wartburgfest als Höhepunkt ein „Ständchenbringen der Bundes-Confuxia vor Eisenacher Mädchenpensionaten“ eingeplant. Und zum Abschluss gibt es noch einen genial erfundenen Ausblick auf das Jahr 1920: Vorort ist dann der Dortmunder Wingolf (wahrscheinlich konnte man sich 1911 nicht vorstellen, dass in Dortmund jemals eine Universität, geschweige denn ein Wingolf existieren könnte). Die Anschaffung von schwarz-weiß-gold angestrichenen Luftschiffen wird für alle Wingolfsverbindungen verpflichtend gemacht. Wer sich solche Perlen einmal intensiver zu Gemüte führen will: Bbr. Felix Plapper (Ef 22, Hg 22) hat diese dankenswerterweise auf der Wingolfsplattform allen Interessierten zugänglich gemacht.

Eine blutige Zeit

Das Jahr 1911, in dem die „Witzblätter“ erscheinen, ist in den „eigentlichen“ Wingolfsblättern aber auch ein Jahr ernsthafter Diskussionen. Bereits seit längerer Zeit diskutierte Themen sind unter anderem die Alkohol- und Stofffreiheit sowie der Beitritt des Wingolfsbundes zur 1902 gegründeten „Anti-Duell-Liga“. Während diese sich gegen potenziell tödliche Duelle richtete, galt die studentische Mensur als gesellschaftlich vertretbar, wurde aber vom Wingolf für seine Mitglieder aus religiös-ethischen Gründen entschieden abgelehnt. Vonseiten der tonangebenden schlagenden Verbindungen standen die nichtschlagenden konfessionellen Verbindungen im Geruch der Feigheit. Dass sie dieses Vorurteil überwinden konnten, war, so makaber das klingen mag, ein Nebeneffekt des Ersten Weltkrieges, aus dem viele Wingolfiten nicht lebend zurückkommen sollten.

In den Wingolfsblättern – von 1913 bis 1919 unter der Schriftleitung Friedrich Ulmers (Mch Sft 1896, E 1897 et al.) – wurde der Kriegsbeginn wie fast im gesamten deutschen Bürgertum euphorisch gefeiert. „Der Sturm bricht los!“ steht in großen Lettern (deutlich größer als sonst in den Wingolfsblättern üblich) über dem Artikel von Carl Kinzel (Be 68). Und dann folgt ؘ– um der Bedeutung des Ereignisses Rechnung zu tragen – in ungewohntem Schriftbild (nämlich einspaltig und in größerem Schriftgrad als sonst) ein Text, der an den kriegerischen Erfolg von 1870/71 erinnert und schließlich mit dem folgenden Appell an die jungen Bundesbrüder, die in den Krieg ziehen, endet: „Reißt das Feuer vom Himmel herunter, laßt eure Seele durchglühen vom lebendigen Gott und tragt die heilige Flamme überall dahin, wo ihr steht. Zeigt im schweren Dienst, im Leiden und im Kampf und am Lager der Verwundeten, daß ihr Licht der Welt und Salz der Erde seid. So werdet ihr euch als echte Wingolfiten beweisen. So zieht hinaus mit eurem Gott fürs Vaterland. Unser Segen geleitet euch. Seid stark in dem Bewußtsein, daß Gott mit der gerechten Sache ist und, daß sich daheim betende Hände für euch erheben.“

Die Vereinnahmung Gottes für die eigene Seite und die unbedingte Kriegsbegeisterung, die aus diesen Worten klingt, lässt aus heutiger Sicht gruseln, trotz (oder gerade weil) mit dem russischen Überfall auf die Ukraine, die Gefahr eines größeren Krieges in Europa derzeit so groß ist, wie seit vielen Jahrzehnten nicht.

In seinem in Heft 2/2014 der Wingolfsblätter (S. 74–82) erschienenen Artikel „Der Wingolf im Ersten Weltkrieg“ betont Manfred Wieltsch (M 62) mit Blick auf das christliche Tötungsverbot und die im Wingolf von Anfang an geübte strikte Ablehnung von Duell und Mensur: „Es ist schon erstaunlich, dass im christlichen Wingolf eine solche Kriegsbegeisterung zu verzeichnen war.“ Zur Erklärung verweist er auf die damalige Gleichsetzung von Landesherr und Kirchenherr in der evangelischen Kirche sowie darauf, dass die meisten Wingolfiten – ebenso wie große Teile der Bevölkerung der Überzeugung waren, der Krieg sei ihnen aufgezwungen worden und man führe einen Verteidigungskrieg. Dies ist auch die Grundhaltung, die in dieser Zeit in den Wingolfsblättern vertreten wird.

Bereits wenige Wochen nach Kriegsbeginn hatten die Wingolfsblätter eine neue Rubrik mit dem Titel „Vom Kriege“. Aktuelle Nachrichten, Erlebnisberichte von Wingolfiten und literarische Texte über den Krieg waren hier versammelt. Und auch die ersten Gefallenen- und Verwundetenlisten erschienen in den Wingolfsblättern, bald schon ergänzt durch viele Seiten schwarz umrandeter Todesanzeigen für die Gefallenen.

„Es ist auffallend, wie bald in den Artikeln der Wingolfsblätter die anfängliche Stimmung der Kriegsbegeisterung in Erschütterung und Trauer umschlug“

merkt Manfred Wieltsch in seinem oben zitierten Artikel an.

Der Schock der Kapitulation

1914, am Vorabend des Ersten Weltkrieges, hatte sich in den Wingolfsblättern kaum ein Hinweis darauf finden lassen, dass die Welt auf einen Krieg zuging. Und auch 1918 war die drohende Kapitulation den Wingolfsblättern nicht zu entnehmen. „Das Gesuch um Waffenstillstand an die USA, der Rücktritt Ludendorffs, der Übergang zum parlamentarischen Regierungssystem werden nicht erwähnt“, stellt Hans Martin Triebel (E Nstft 47, G 48, Hv Nstft 52) in der Geschichte des Wingolfs verwundert fest (S. 160).

Rechnete man nicht mit einem solchen Ende? War man wirklich überrascht? Oder hätte man es als Defätismus angesehen, an ein solches Ende auch nur zu denken? Das wird sich wohl nur schwer klären lassen. Fakt ist jedoch, dass am 12. November 1918, also am Tag nach dem Waffenstillstand von Compiègne auf der ersten Seite der Wingolfsblätter ein Artikel von Schriftleiter Friedrich Ulmer erschien, in dem es hieß (zit. nach „Geschichte des Wingolfs, S. 160): „Was wird sein, wenn diese Zeilen (…) gelesen werden? Wer empfinden kann, der empfindet eine einzige unabsehbare Not, hinter der alles andere zurücktritt.“ Ulmer betont das Recht der Unterlegenen, ihre Niederlage und ihre Verluste zu betrauern. Er plädiert dafür, jetzt nicht nach Schuldigen zu fragen, sondern sich der ganz konkret vorhandenen Not zu stellen. Und in einer seltsamen Mischung aus Hoffnungslosigkeit und Gottvertrauen fährt er fort: „Wer will mehr sagen? Vom morgigen Tag? Wer weiß von Übermorgen? (…) Also auch ihr (…) seid in Gottes Hand.“

Die Entwicklung der Wingolfsblätter ab 1919 ist Thema in Heft 4/2023.

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