Zu jedem Wartburgfest gedenkt der Wingolf am Wingolfsdenkmal in Eisenach seinen Toten der Kriege der Vergangenheit, heute auch allen Opfern von Verfolgung und Kriegen. Das Gedenken am Wingolfsdenkmal umschließt auch Todesfälle aus dem Wingolfsbund und dem Verband Alter Wingolfiten (VAW) aus unserer Zeit. Anlässlich des Totengedenkens sprechen der Sprecher des Wingolfsbundes und der Vorsitzende des VAW. Wir dokumentieren hier die Rede von Alexander Braun (Bundessprecher 2017-2019).
Werte Damen,
liebe Gäste,
liebe Farbengeschwister, Philister und Bundesbrüder,
der Wingolf erinnert hier am Wingolfsdenkmal zu seinen Wartburgfesten seiner Toten in den Kriegen der deutschen Vergangenheit. Mithin allen Opfern von Kriegen. Für manche ist Krieg nur die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln, wir Wingolfiten wissen: Krieg ist immer eine Niederlage. Die Toten mahnen uns.
Dass wir auch heute hier innehalten und der Toten gedenken, ist nicht selbstverständlich. In der Hast und Oberflächlichkeit unserer Zeit geht das Nachdenken über die Vergangenheit leicht unter. Das Jahr 2019 ist besonders geprägt durch Jahrestage, die uns auf unsere Geschichte verweisen. Auf zwei von ihnen möchte ich hier kurz eingehen, weil sie unser Andenken einordnen können. Ja, ohne die Erinnerung an diese historischen Ereignisse geriete das Gedenken an die Toten des Wingolf zu einer leeren Übung oder zu einer selbstverliebten Nabelschau.
Vor 100 Jahren versammelten sich die Abgeordneten der Nationalversammlung in Weimar, also in unmittelbarer Nähe zu Eisenach, unserer Bundesstadt, in der wir dieser Tage erneut zusammenkommen. Das Zusammentreten dieser verfassungsgebenden Versammlung war eine Folge der erfolgreichen Revolution des deutschen Volkes. Eine Revolution, die viele Gegner hatte. Auch aus den Reihen des Wingolf standen viele Brüder der jungen Demokratie feindselig gegenüber.
Aus dem Ersten Weltkrieg ging der Wingolf geschwächt hervor. Viele Brüder hatten an der Front ihr Leben gelassen oder waren durch das Miterleben des Krieges für alle Zeiten an Körper und Seele verwundet. Doch führte das Trauma des Weltkrieges nicht – oder gerade nicht? – dazu, dass auch die Wingolfiten jener Tage dem Götzen des Nationalismus abschworen, der Europa in den Krieg gestürzt hatte.
Schon bald erhob sich – besonders unter den Studenten, auch den Wingolfiten – ein neuer, militanter Nationalstolz, der die Abwertung anderen Nationen und – nur etwas später – sogenannter „Rassen“ gebrauchte, um das Selbstwertgefühl einer neuen Generation zu stärken. Doch überwand der Stolz auf die Nation und auf das Deutschtum gerade nicht die Traumata des Krieges, auch nicht die empfundene Demütigung durch den Vertrag von Versailles. Nein, Chauvinismus und Hass kennen keine Befriedigung, sie nähren sich immer weiter.
Vor 80 Jahren wurde hier in Eisenach das „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ von elf evangelischen Kirchen gegründet. Erst seit ein paar Wochen erinnert ein weiteres Mahnmal hier in unserer Bundesstadt an dieses historische Datum.
Das Institut hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das Christentum von allem Jüdischen zu reinigen. Ein Vorhaben, das nur misslingen konnte. Unser christlicher Glaube gründet in der Geschichte Gottes mit seinem Volk, mit dem Volk Israel, dass er durch alle Zeiten und bis heute erwählt hat. Die bleibende Erwählung Israels durch Gott wurde von den Nazi-Theologen bestritten. Sie interpretierten die Bibel um, bis Jesus und Paulus als „Arier“ galten. Sie strichen Lieder aus dem Gesangbuch, die wie das gerade eben gehörte „Tochter Zion“ an die jüdische Geschichte des christlichen Glaubens erinnern.
Die zum großen Teil jungen Theologen des „Entjudungsinstituts“ gingen begeistert und eifrig ans Werk. In ihrer Verblendung waren sie sich sicher, mit ihrer Arbeit dem wahren Christentum zu dienen, das ein „deutsches Christentum“ sein müsse. Im Deutschtum verwirkliche sich erst, was Jesus im Neuen Testament predige. Damit bereiteten die Theologen des Instituts die Vernichtung der Europäischen Juden ideologisch vor. Sie erschien selbst „guten Christenmenschen“ als absolut folgerichtig.
Die Christen und Theologen, darunter viele Wingolfiten, sind in dieser Zeit schuldig geworden. Sie haben den christlichen Glauben auf dem Altar des Nationalismus und Antisemitismus geopfert. Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden die Kirchen nur zögerlich zu einem Eingeständnis ihrer Schuld. Und wer von uns traut sich heute mit Gewissheit einschätzen zu können, was in den Köpfen der vielen jungen und alten Wingolfiten vorging, die 1945 den Zweiten Weltkrieg im Rücken auf die Reste der einstmals stolzen Tradition des Wingolf schauten?
Trotz vieler Kontinuitäten deutscher studentischer Kultur, haben die Studentenverbindungen und der Wingolf nach dem Zweiten Weltkrieg einen Platz im neuen demokratischen Deutschland gefunden. Sie haben die Fehler der Weimarer Zeit nicht wiederholt, auch wenn es bis heute Studentenverbindungen gibt, die ihre Rolle in der deutschen Demokratiegeschichte mit Füßen treten, indem sie nationalistisches und rassistisches Gedankengut fördern. Auch davon weiß diese Stadt zu erzählen.
Der Wingolf ist nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Ort lebendigen staatsbürgerlichen Denkens und Handelns geworden. Das ist nicht selbstverständlich. Wir gedenken hier am Wingolfsdenkmal ja vor allem jungen Männern, die in Kriegen kämpften und starben, in die sie mal mehr, mal weniger begeistert und überzeugt zogen oder hineingezogen wurden. Welches Glück haben wir seit nunmehr fast 75 Jahren, dass Deutschland mit seinen Nachbarn Frieden hält?
Lasst uns daran denken, dass Nationalismus und Rassenhass am Ende in Schützengräben führen, erst mentale, dann reale. Schützengräben, wie sie es in unserer Vergangenheit reichlich gab. Schützengräben, die auch heute wieder ausgehoben werden. Konkret hier in Thüringen und in Deutschland, in Europa, ja, leider auf der ganzen Welt. Schützengräben, von denen wir hoffen, dass es uns gelingt, sie zuzuschütten. Dazu mahnen uns die Toten, auch die des Wingolf.
Ich möchte enden mit Worten von Richard von Weizsäcker, die er in seiner Rede zum 8. Mai 1985 gebraucht hat. Das ist jetzt fast 35 Jahre her, unsere jungen Wingolfsbrüder kennen sie vielleicht aus dem Geschichtsunterricht. Er rief dazu auf, der Wahrheit so gut es geht ins Auge zu schauen. Das bleibt Auftrag auch für uns Wingolfiten.
„Wir haben als Menschen gelernt, wir bleiben als Menschen gefährdet. Aber wir haben die Kraft, Gefährdungen immer von neuem zu überwinden. Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feindschaften und Hass zu schüren.
Die Bitte an die jungen Menschen lautet:
Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass
gegen andere Menschen,
gegen Russen oder Amerikaner,
gegen Juden oder Türken,
gegen Alternative oder Konservative,
gegen Schwarz oder Weiß.
Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander.“
Weitere Informationen zur Geschichte des Eisenacher sog. “Entjudungsinstituts” finden Sie in diesem Beitrag.
Alle Ansprachen des Vororts zum 77. Wartburgfest sind unter dem Titel “Es gilt das gesprochene Wort” als PDF-Dokument und gebundene Druckfassung erhältlich: Weitere Informationen.
(Bild: Foto Hartmann-Lotz im Auftrag des Wingolfs)