Der Verfassung der ersten deutschen Republik entstand fern von der Reichshauptstadt, denn als die Volksvertreter sich nach der Januarwahl zum ersten Mal versammelten, wählten sie Weimar als Tagungsort. Von den Denkmälern der deutschen Klassiker in der thüringischen Kleinstadt strahlte der Geist der Vernunft, während über den Strassen Berlins noch der Blutgeruch der Kämpfe zwischen dem kommunistischen Spartakus und regierungstreuen Truppen lag. Kein Abgeordneter wollte in die Gefechte der verfeindeten Gruppen geraten und als Geisel genommen werden. Also: Ab nach Weimar!
Ein Land in schwieriger Verfassung
Doch auch als die Verfassung verabschiedet war, kehrte kein Friede ein. Zu stark waren die sozialen Verwerfungen, die der Krieg angerichtet hatte. Zu laut die Hetzparolen der Kaisertreuen, die die Spitzen der neuen Republik verächtlich machten und die Morde an demokratischen Politkern wie Matthias Erzberger und Walther Rathenau beklatschten. Zu unversöhnlich die kommunistische Linke, die auf Befehl aus Moskau eher die Nazis an die Macht kommen liess, statt die Zusammenarbeit mit den demokratischen Parteien zu suchen.
Diese Unwucht in der Gesellschaft konnte die beste Verfassung nicht heilen. Dazu kamen ökonomische Krisen wie Inflation und Weltwirtschaftskrise, die tief in das Mark nicht nur des Proletariats, sondern auch des Bürgertums einschnitten. Hunger, sozialer Abstieg und die Erfahrung, nicht mehr dazuzugehören, entfremden die Bürger von jedweder Obrigkeit, auch von der demokratisch legitimierten. So war es nicht die Verfassung von Weimar, die die Republik letztlich scheitern liess, es waren Umstände, die jenseits der Verfassungsartikel lagen und für die die Väter und Mütter dieser ersten deutschen Verfassung mangels prophetischer Gabe kein Antidot einbauen konnten.
Die Zerrissenheit der Gesellschaft, die bei so grundstürzenden Veränderungen wie Krieg und Wechsel der Staatsform kaum zu vermeiden ist, spiegelte sich in der Parteienlandschaft wider. Im rechten, im linken und im liberalen Lager vervielfältigten sich die Parteien und mangels einer Fünf-Prozent-Hürde für den Einzug in den Reichstag und die Länderparlamente wurde die Regierungsbildung schwierig. Je mehr Parteien und Parteiflügel in den Kabinetten vertreten waren, um so mehr blockierte interner Streit eine konsistente Regierungsarbeit.
Tragisches Beispiel mit weitreichenden historischen Folgen ist 1930 der Sturz der Regierung Hermann Müller (SPD). Seine fragile Vierparteien-Koalition hatte sich nach langen Mühen auf eine Reform der Finanzierung der Arbeitslosenversicherung verständigt. Doch der linke SPD-Flügel liess die Verständigung platzen.
Damit brach die Koalition der Demokraten, und es begann die Herrschaft der Notverordnungen des reaktionären Reichspräsidenten Hindenburg. Das Land schlitterte in einen Abgrund. Es folgte die Machtübernahme der Nationalsozialisten. Bei der ständigen Suche nach Kompromissen, hatten die Parteien ihre klaren Alleinstellungsmerkmale und damit auch das Vertrauen ihrer jeweiligen Wählerschaft verloren. Das begünstigte den Aufstieg von Populisten, die den Unmut mit wohlfeilen Versprechungen aufsaugten, den Sturz des demokratischen Systems predigten und schliesslich vollendeten.
Lehren aus Weimar
Welche Lehren sich für heute aus dieser Weimarer Entwicklung ziehen lassen, ist nicht einfach zu sagen. Die Fünf-Prozent-Hürde ist hilfreich. Sie hat Parteien wie NPD oder Republikaner nicht gehindert, in die Parlamente einzuziehen, aber sie hat sie auch in ihrem Niedergang nicht künstlich durch Parlamentspräsenz am Leben erhalten. Sie hat die AfD nicht gestoppt. Aber mit zunehmender Stimmenzahl und entsprechender Beachtung von aussen wurde deutlich, dass die Partei von Machtkämpfen und inhaltlichen Konflikten zerfressen ist und mithin die Ansprüche, die sie an die anderen Parteien stellt, selbst nicht erfüllen kann.
Hoffnung kann nur daran liegen, dass die demokratischen Parteien jeweils zu einem Debattenstil finden, der nach aussen getragenen Streit vermeidet, und dass am Ende eine gemeinsame parteipolitische Positionierung steht. Denn Parteien, die im Dauerkonflikt mit ihren Flügeln stehen, sind miserable Verhandlungspartner. Sie zerlegen sich selbst und machen Koalitionen brüchig.
Die Mütter und Väter des Grundgesetzes von 1949 haben nach den unrühmlichen Erfahrungen mit der Machtfülle des Reichspräsidenten die Eingriffsmöglichkeiten des Staatsoberhauptes der Bundesrepublik in die Regierungs- und Parlamentsarbeit auf ein Minimum reduziert. Nur die Prüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmässigkeit und die Auflösung des Bundestages auf Bitten eines Kanzler, der selbst samt einem Nachfolgekandidaten keine Mehrheit im Parlament findet, sind ihm an Rechten geblieben.
Dass ein Präsident aufgrund seiner Autorität dennoch Einfluss nehmen kann, hat Frank-Walter Steinmeier bewiesen, als er nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen auf die SPD einwirkte, sich der Regierungsverantwortung nicht zu entziehen. Durch diesen Appell hat er zugleich unterstrichen, dass das Parlament sich in Krisensituationen nicht davon stehlen und in Neuwahlen flüchten kann, sondern seiner Macht entsprechend auch Entscheidungsstärke zu beweisen hat. Nur ein entscheidungsstarkes, selbstbewusstes Parlament kann die Achtung der Bürger gewinnen. Diese Einsicht hatten Weimarer Parteien noch nicht.
Die Rolle der Medien
Bleiben die Medien. Während die klassischen Medien – Presse, Radio, Fernsehen und ihre digitalen Portale – nach 1945 im Westen des Landes unter dem Einfluss englischer und amerikanischer Presseoffiziere den Weg zu einer regierungsunabhängigen objektiven Nachrichtengebung und argumentativen Kommentierung beschritten haben (ein Weg, auf dem die auf die Politik der SED verpflichteten Medien in der DDR nach dem Mauerfall folgten), breitet sich mit dem Aufkommen der Digitalisierung und der Möglichkeit für jedermann, seine persönlichen Meinungsäusserungen ohne Rücksicht auf die ethischen Kodizes der professionellen Medien zu publizieren, eine mit Vitriol getränkte Melange von Hate Speech und Verschwörungstheorien aus, die an die Situation der Weimarer Republik erinnert. Dort vergiftete eine Hetzpresse das Klima der Auseinandersetzungen und trug damit zur Spaltung der Gesellschaft bei.
Man kann viele Mutmassungen anstellen, wie es in der Bundesrepublik zu einer ähnlichen Situation kommen konnte. Aber eine Verfassungsfrage ist das nicht. Beide deutschen Verfassungen – von 1919 und 1949 – garantierten die Meinungsfreiheit, aber beide konnten und können nicht garantieren, dass die Meinungsfreiheit verantwortlich genutzt wird. Mediale Selbstverpflichtungen, Pressekodices und selbst Strafgesetze lassen sich nicht effektiv auf individuelle Meinungsäusserungen anwenden, die es an Reichweite mit den klassischen Medien leicht aufnehmen können.
Das Gesetz kapituliert vor der Flut individueller Gesetzesverstöße. Versuche, europäische Regelwerke für internationale Portale verbindlich zu machen samt der Verpflichtung, ihre Inhalte vor der Publikation auf Wahrheitsgehalt und Wahrung von Persönlichkeitsrechten zu überprüfen, sind bisher gescheitert. Bislang hat sich das ökonomische Interesse an möglichst viel traffic gegenüber ethischem Handeln behauptet.
“Das Netz ist nur ein Spiegel der Realität”
Eine Frage bleibt, warum in unserer vermeintlich gefestigten Demokratie das Vertrauen in die Unabhängigkeit der klassischen Medien in Frage gestellt und jede für den eigenen Horizont nicht passgerechte Information als Fake news bezeichnet wird. Offen bleibt auch, warum in der digitalen Welt Respektlosigkeit und Unflätigkeit gegenüber Politikern, Journalisten und jedermann üblich geworden ist. Das Netz ist nur ein Spiegel der Realität. Mangelnder Respekt gegenüber Politikern kann eine, aber auch nur eine Ursache in der Respektlosigkeit haben, mit der Politiker sich selber im öffentlichen Meinungsstreit begegnen. Misstrauen gegenüber den Medien mag entstanden sein, weil Journalisten ihre Relevanzkriterien für die Berichterstattung zu lange fern der Interessen und Bedürfnisse der Leser festlegten.
Die Kernursache für den rhetorischen und moralischen Vandalismus im Netz aber liegt in einer Gesellschaft, in der Regeln des Umgangs miteinander nicht mehr als Garantien, sondern als Einschränkungen individueller Freiheit verstanden werden. Und insoweit ist es dann doch eine Verfassungsfrage. In Artikel 3 Absatz 2 heisst es: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ Und nicht: „Die Freiheit des Bürgers besteht darin, andere jederzeit zu verletzen.“ Wie diesen Entwicklungen entgegengewirkt werden kann, ist ein dauerhaftes Debattenthema nicht nur für Schulen und Migranten-Unterweisungen – sondern für die ganze Gesellschaft und für die Gespäche auf Ihrem Wartburgfest.
Ernst Elitz ist renommierter Journalist und anerkannter Hochschullehrer. Als Gründungsintendant des Deutschlandradios bestimmte er bis 2009 die politische Debatte maßgeblich mit. Seit März 2017 ist er Ombudsmann bei der BILD. (Foto: Jens Oellermann für BILD)