Wikipedia hasst Studentenverbindungen; Wikipedia liebt Studentenverbindungen. Das klingt widersprüchlich, ist es aber nicht. Denn erstens gibt es nicht „die“ Wikipedia, sondern nur eine äußerst heterogene Community, in der sich Vertreter beider Positionen finden. Und zweitens gibt es unter den langjährig engagierten Nutzern auch solche, die sich für wie gegen Artikel aus dem korporativen Umfeld aussprechen. Aber dazu später mehr.
Wie komplex die Welt der Online-Enzyklopädie ist, lässt sich mit etwas Fantasie beim Blick auf das offizielle Logo erahnen – eine Text-Bild-Komposition, bei der Puzzleteile mit Glyphen verschiedener Schriftsysteme eine unvollständige Weltkugel bilden. Plakativ spielt dieses Logo auf den stets unfertigen Charakter des Systems an, die Welt abzubilden.
Der Beitrag erschien im Original in den Wingolfsblättern 3/24 auf den Seiten 32–34. Autor ist Torsten Paßmann (Mch09 A17).
Dabei ist Wikipedia weitergekommen als jede andere Enzyklopädie in der Geschichte der Menschheit. Allein die deutschsprachige Version enthält mit Stand August 2024 etwas mehr als 2,9 Mio. Artikel und über den gesamten Bestand der +300 Sprachversionen hinweg sind es sogar über 62 Mio. Artikel. Diese massive Präsenz führt auch zu enormer Popularität: In der westlichen Hemisphäre gehört Wikipedia zu den beliebtesten Medienangeboten. In Deutschland platzierte sich wikipedia.org beispielsweise im Juni 2024 mit etwas über 300 Mio. Besuchern auf dem fünften Rang – als einzige nichtkommerzielle Website in den Top Ten.
Die große Reichweite weckt naturgemäß auch Begehrlichkeiten, das Medium für eigene Ziele zu instrumentalisieren. Heißt: sich selbst als Person, Unternehmen oder eben Studentenverbindung mit einem Artikel zu verewigen bzw. aufzuwerten.
Welt und Dorf gleichzeitig
An dieser Stelle schlägt aber ein anderer Aspekt zu, der sich aus dem Globus im Logo herauslesen lässt. Die Plattform ist nicht nur so groß und komplex, dass man auch nach Jahren aktiver Beteiligung immer noch unbekannte Ecken oder neue, hilfreiche Tools findet – diese Welt ist auch ein Dorf. Aus dem großen Reservoir von geschätzt etwa 90 bis 105 Millionen deutschen Muttersprachler weltweit begeistert sich nur ein überraschend kleiner Teil dazu, als angemeldeter Benutzer mit fünf oder mehr Bearbeitungen zur deutschsprachigen Version beizutragen: In den zwölf Monaten vor Erstellen dieses Beitrags lag der Durchschnitt etwa bei 6.000. Der ganz harte Kern mit 100 oder mehr Bearbeitungen pro Monat pendelt um 1.100.
Zwei Eigenschaften kennzeichnen diese Nutzer unabhängig von den jeweiligen thematischen Vorlieben. Erstens: Viele haben ihre Expertise über lange Zeit aufgebaut und kommen dabei teils auf 15 oder mehr Jahre an Engagement. Zweitens: Sie haben online wie auch bei Treffen im echten Leben ein belastbares Netzwerk aufgebaut, das sich auch ohne große Absprachen gegenseitig unterstützt. Begehen Wikipedia-Neulinge dann ohne Kenntnis der formalen und informellen Regeln oftmals kaum vermeidbare Anfängerfehler, stehen sie alleine einer Phalanx alter Hasen gegenüber und gehen in Diskussionen schnell unter. Letzteres ist im Januar 2023 beispielsweise dem Stuttgarter Wingolf passiert. Mit böser Zunge lässt sich die Community der deutschsprachigen Wikipedia mit einem Sandkasten vergleichen, in dem die schon länger dort aktiven Menschen sehr konkrete Vorstellungen vom „richtigen Spielen“ haben – und wo sich neue – vom teils rauem Ton – schnell verscheuchen lassen.
Grundsätzlich ein reichhaltiger Fundus
Um speziell mit der korporativen Brille auf Wikipedia zu schauen: Allein in der Kategorie „Studentisches Brauchtum und Ritual“ finden sich etwa 100 Artikel, etwa zur lokalen Göttinger Tradition des Bullerjahn oder Nischenthemen wie dem Corps- bzw. Couleurhund und dem Doctor cerevisiae. Auch das Knattern und das Schmollis sind verewigt, um nur beispielhaft ein paar randständige Themen zu nennen. Deutlich zahlreicher und wichtiger sind natürlich die Artikel über Corps, Burschenschaften und christliche Studentenverbindungen aller Dachverbände – ebenso wie u. a. über Coburger, Damen, Schweizer oder jüdische Verbindungen. Inklusive der Biographien Alter Herren gibt es deutlich mehr als 20.000 Artikel im Kategorienbaum Studentenverbindungen. Es ist ein reichhaltiger Fundus, in den man sich einlesen kann. Die Wikipedia – also die Gemeinschaft der Autoren – scheint Korporationen also zu lieben. Oder?
„Unliberale“ und „Couleurtaliban“
Vielleicht werden sie aber auch nicht geliebt, denn Studentenverbindungen waren einstmals privilegiert. Immerhin konnten prominente Mitglieder enzyklopädische Relevanz „abfärben“ – und aus praktischen Gründen gilt als prominent, wer einen Wikipedia-Artikel hat. Je älter eine Verbindung ist, desto mehr solcher Personen kommen naturgemäß zusammen, schließlich führte ein Studium in früheren Zeiten eher zu wichtigen Positionen in der Wissenschaft und Gesellschaft als heute. Mit zwei Meinungsbildern im Sommer 2012 und im Februar 2014 wurden die spezifischen Relevanzkriterien für Studentenverbindungen jedoch erst gekürzt und dann komplett geschleift. Seitdem sind die Kriterien für Vereine anzuwenden.
Das herrschende Klima zeigt sich dabei an Kommentaren, wo beispielsweise die Siegerseite der „Verbindungslobby“ unterstellte, mit „einer unglaublichen Dreistigkeit“ zu agieren. An anderer Stelle fiel auch einmal der Ausdruck „Couleurtaliban“. Die Befürworter hingegen reklamierten „Machtpolitik bei Wikipedia durch Unliberale“ – und selbige natürlich „rein ideologisch motiviert“. Losgelöst von solchen Scharmützeln war eine praktische Folge jedenfalls, dass im Nachgang zahlreiche bestehende Artikel auf den Prüfstand gestellt wurden.
Druck auf Artikel zu Verbindungen
Wie sich die neue Situation auf Artikel über Studentenverbindungen ausgewirkt hat, lässt sich schlaglichtartig an zwei Wingolfsverbindungen beleuchten, deren Gründung erst im 20. Jahrhundert erfolgte. Der 2008 über den Freiburger Wingolf angelegte Artikel rutschte im August 2015 mit der schlichten Begründung „Erfüllt nicht die Relevanzkriterien für Vereine“ in eine lange wie auch intensive Löschdiskussion. Pro Artikel argumentierten hier vor allem die Benutzer Gartenschläfer und Gleiberg, die „überzeugend die Tradition, Bedeutung und Außenwirkung der Verbindung dargelegt“ hätten, womit „die allgemeinen Relevanzkritierien für Vereine erfüllt“ seien, wie es in der Behaltensentscheidung heißt. Anders die Situation beim Wingolf zu Wien, dessen Artikel drei Löschdiskussionen (Juli 2005, November 2013 und Juni 2015) sowie eine Löschprüfung (Januar 2014) überstand, bis im Juni 2015 die zweite Löschprüfung das gewünschte Ergebnis brachte. Zwar lässt sich durch eine neuerliche Prüfung dieses Ergebnis auch wieder revidieren – allerdings gelingt das nur mit wesentlichen und neuen Argumenten. Bis dahin ist der Wingolf zu Wien in der deutschsprachigen Wikipedia kein Thema mehr.
Beim Stuttgarter Wingolf, der hier nur prototypisch steht, ging es im Januar 2023 indes schneller: Dort brauchte es nur einen Anlauf und eine Woche, bis der frisch angelegte Text wieder rausgekegelt wurde. Ein Musterbeispiel, wie man nicht argumentiert, lieferte dabei Benutzer JotGeKa. Schließlich habe er „nochmal gut zusammengefasst“, dass die Verbindung „völlig irrelevant nach unseren Kriterien“ sei, urteilte ein Diskutant. Besser lief es im Juni 2024 bei der knapp 200 Jahre alten Landsmannschaft Teutonia München, bei der sich sowohl wohlwollende Diskutanten als auch relevanzstiftende Fakten fanden. Letzteres können auch negative Medienberichte sein. Aber solche Artikel werden üblicherweise nicht aus dem Verbindungsumfeld angelegt, sondern von jenen, die sich sonst (mit teils hanebüchenen Beiträgen wie „und er ist Burschenschafter!“ bei einem biographischen Artikel) für das Löschen aussprechen.
Fazit
Im mittlerweile über 20 Jahre bestehenden Schatz an Wortmeldungen beider Seiten finden sich naturgemäß noch viele andere Zitate und Beispiele, um die teils verhärteten Fronten aufzuzeigen zwischen „Korpos“ und „Kritikern“. Wichtiger ist aber vielmehr die Erkenntnis, dass es sowohl genügend neutrale Autoren gibt, die sich unbefangen dem Thema nähern, als auch – trotz allem Gegenwind – weiterhin neue Beiträge erstellt werden und eingestellt bleiben können. Welche Chancen sich hier speziell aus wingolfitischer Sicht bieten, wird dann Thema eines weiteren Beitrags sein.
Bild (leicht beschnitten): Fawaz.tairou, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons