Karl Zeiß – der „Olympiapfarrer“

Der Wingolfit Karl Zeiß (Gi 31, H 33, Dp 35) war evangelischer Seelsorger bei den Olympischen Spielen 1972.

Voller Hoffnung und Zuversicht wurden sie erwartet: Die olympischen Sommerspiele, die 1972, also vor einem halben Jahrhundert in München stattfanden. Ein frohes Fest des internationalen Sports sollte es werden. In München wollte Deutschland zeigen, wie sehr es sich verändert hatte, seit 36 Jahre zuvor in Berlin die Olympischen Spiele im Schatten der Hakenkreuzfahne ausgetragen worden waren. Das Land, das vor gar nicht so langer Zeit Europa und die Welt in einen schrecklichen Krieg gestürzt hatte; das Land, von dem die Shoah ausgegangen war – hier präsentierte es sich als geläutert. Zumindest im Westen des Landes hatte sich eine stabile Demokratie etabliert, war eine offene, tolerante Gesellschaft entstanden. Das war die Botschaft, die 1972 von München ausgehen sollte.

Das von palästinensischen Terroristen verübte blutige Attentat auf die israelische Olympiamannschaft bereitete der fröhlichen Stimmung ein jähes Ende, auch wenn der damalige IOC-Präsident Avery Brundage sich mit seiner Forderung „The games must go on“ durchsetzen konnte. An all das wurde in diesem September immer wieder erinnert, Gedenkfeiern wurden abgehalten, um eine angemessene Entschädigung der Angehörigen der Opfer wurde gerungen. Aber auch an sportliche Highlights der Olympiade von 1972 wurde erinnert.

Der Weg zum Sportseelsorger

Über eine Person, die zumindest am Rande eine Rolle spielte, wurde jedoch nicht berichtet: über den Wingolfiten Karl Zeiß (Gi 31, H 33, Dp 35), den „Olympiapfarrer“, der die evangelische Seelsorge während der Münchner Olympiade zu koordinieren hatte. Als Aktiver hatte Karl Zeiß im Gießener Wingolf eine Gruppe von Theologiestudenten organisiert, die sich dem absoluten Führungsanspruch der Nationalsozialisten und der „Deutschen Christen“ widersetzten und sich der Bekennenden Kirche zuwandten.

Nach seiner Zeit als Soldat im Zweiten Weltkrieg und der nachfolgenden Kriegsgefangenschaft wurde Karl Zeiß Pfarrer der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, deren Synode er von 1954 bis 1988 angehörte. Hier fand er auch zu dem großen Thema, das ihn sein Leben lang umtreiben sollte: die Sportseelsorge. Mit Vorträgen und Büchern, etwa dem 1962 erschienenen Werk „Christ und Sport“, plädierte er für eine positive Einstellung der Kirche zum Sport und auch zu sportlichen Großveranstaltungen – ein Anliegen, das damals keineswegs selbstverständlich war. Voller Engagement initiierte und förderte Karl Zeiß den Dialog zwischen Kirche und Sportverbänden. Anlässlich eines Motorradrennens auf dem zwischen Gießen und Fulda gelegenen Schottenring zelebrierte er erstmals einen evangelischen Gottesdienst bei einer sportlichen Großveranstaltung. Als EKD-Beauftragter begleitete er die deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei fünf olympischen Spielen (Helsinki 1952, Rom 1960, Innsbruck 1964, Mexiko 1968 und München 1972). Auch bei den Fußballweltmeisterschaften von 1954, dem „Wunder von Bern“, und 1974 vertrat er die evangelische Kirche. Bei alldem war Karl Zeiß nicht blind gegenüber den negativen Auswüchsen im Leistungssport: „Mein Vater witterte auch bereits früh die ethischen Probleme, etwa den Betrug durch leistungssteigernde verbotene Substanzen,“ zitierte die Gießener Allgemeine Zeitung am 13. April 2012 Zeiß‘ Sohn Wolfgang.

Den Glauben zu den Menschen bringen

Karl Zeiß war es ein Anliegen, den Glauben, die Kirche zu den Menschen zu bringen. Deshalb engagierte er sich für die Sportseelsorge, deshalb initiierte er gemeinsam mit Erich Warmers (E Nstft 47, M 48, Ft 55) die „Campingseelsorge“, mit der er auch die Urlauber erreichen wollte, deshalb setzte er sich als Pfarrer in Frankfurt a. M. gemeinsam mit seiner Frau gegen Immobilienspekulation und Mietwucher ein.

Übertriebene Strenge?

Allerdings zeigte Karl Zeiß manchmal auch eine Strenge, die aus heutiger Sicht (und erst recht aus der Sicht eines rheinischen Katholiken, wie der Verfasser einer ist) befremdlich erscheint: So setzte er durch, dass ein Vergnügungslokal im Frankfurter Bahnhofsviertel namens „Himmel und Hölle“ den „Himmel“ aus seinem Namen streichen musste. Genüsslich zitiert die „Gießener Allgemeine Zetung“ in der o. g. Ausgabe in diesem Zusammenhang eine Schlagzeile aus der Nachtausgabe der Frankfurter „Abendpost“: „Der Sieg des Pfarrers, der ‚Himmel‘ muss weg!“ Auch gegen den vom Kölner Volksschauspieler Willy Millowitsch gesungenen Karnevalsschlager des Jahres 1960 „Schnaps, das war sein letztes Wort, dann trugen ihn die Englein fort“ ging Karl Zeiß auf die Barrikaden. Er fand, hier werde die Sünde verharmlost. Wenn das letzte Wort eines Menschen „Schnaps“ sei, so sei er weit entfernt von jeder Erlösung. In dieser Hinsicht werde in dem Lied der christliche Glaube lächerlich gemacht.

Das Erlebnis des Jahres 1972 Wie Karl Zeiß das Attentat auf die israelische Olympiamannschaft erlebt hat, darüber konnte der Verfasser bislang kein Material finden. Aber es ist anzunehmen, dass diese Ereignisse nicht spurlos an Karl Zeiß vorübergingen, dass er in sportpolitische und seelsorgliche Gespräche involviert war, in denen sie eine Rolle spielten. Jemand, der bei all seiner – vielleicht bisweilen überzogenen – Strenge den Menschen so zugewandt war, wie Karl Zeiß, dürfte auch hier die Menschen im Blick gehabt und mit ihnen mitgelitten haben.

 

Bild: Gregor Baldrich, Deutsches Sport & Olympia Museum, Attribution, via Wikimedia Commons