Geschichte

Vergessene Geschichte: Der Prager Wingolf von 1849

Vergessene Geschichte: Der Prager Wingolf von 1849

Ein beinahe in Vergessenheit geratenes Kapitel der Wingolfsgeschichte wird in der Ausgabe 4/2024 der Wingolfsblätter (143. Jahrgang, S. 23–27) von Cph. Willi Neusel (T 69) neu beleuchtet: die Gründung des Prager Wingolfs im Jahr 1849. Von dieser Wingolfsverbindung dürften viele Bundesbrüder wohl noch nie gehört haben, schließlich war sein Bestehen war äußerst kurz.

Der Artikel „Der Prager Wingolf von 1849 – eine echte Kurzgeschichte” geht der Frage nach, ob es diesen Wingolf wirklich gab. Dabei findet er unter anderem folgende Antworten: 42 Namen mit der Aktivitätszahl P49, erhaltene Mitgliederverzeichnisse im Prager Universitätsarchiv sowie einen Hinweis in einem Brief aus dem Jahr 1961.
Auch eine Abhandlung über die Studenten-Legionen an der Karls-Universität aus dem Jahr 1934 erwähnt ausdrücklich einen Studentenverein namens „Wingolf“. Dessen Ziele – Ablehnung von Duell und Mensur, Förderung geistiger und körperlicher Entwicklung – stimmen erstaunlich mit denen des heutigen Wingolfs überein, auch wenn es sich nicht um eine direkte Vorläuferverbindung handelte.

Doch warum bestand der Prager Wingolf nur so kurz? Die Antwort liegt in der politischen Lage der Zeit: Nach dem gescheiterten Prager Mai-Aufstand im Jahr 1849 folgte die Restauration und studentische Verbindungen wurden per Erlass erneut verboten.

Der Artikel führt in die politische und kulturelle Situation des Revolutionsjahres 1848/49 in Böhmen ein, beleuchtet die Eigenständigkeit der Prager Korporationsszene (das Bild zeigt übrigens das heutige Hotel Aurus, Důmu Zlaté Studny, im Jahre 1980 – ehemals Kneiplokal der Verbindung Rugia) und das Spannungsfeld zwischen tschechischer Identität und deutschen Verbindungen. Ergänzt wird die Darstellung durch ein Mitgliederverzeichnis, Hinweise auf den Austausch zwischen Prag und Wien sowie die politische Rolle der Wingolfiten vor Ort.

Weiterlesen: Die gesamte Ausgabe 4/24 steht Wingolfiten wie gewohnt auf der Wingolfsplattform zur Verfügung. Wer sich für die verborgenen Seiten der Wingolfsgeschichte interessiert, sollte diesen Beitrag nicht verpassen. In der selben Ausgabe findet sich übrigens auch ein spannender Artikel über Albert Schweitzer.

Foto (beschnitten): David Sedlecký, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Posted by Onlineredaktion in Geschichte
Zur 150-jährigen Geschichte der Wingolfsblätter (1949–1967)

Zur 150-jährigen Geschichte der Wingolfsblätter (1949–1967)

„Sie wollen keine Preßfreiheit, weil sie glauben, der Wind drehe sich nach der Wetterfahne“ – so spottete der Dichter und Journalist Ludwig Börne (1786–1837), einer der wichtigsten Vorkämpfer für Demokratie in Deutschland, einst über die Gegner der liberalen Bewegung. Mit diesen Worten spricht Börne, ein Dilemma an, dem sich jedes Medium, jeder Journalist immer wieder von Neuem stellen muss: Wind oder Wetterfahne?

In welchen Phasen ihrer Geschichte die Wingolfsblätter eher „Wind“ in welchen eher „Wetterfahne“ waren, dieser Frage soll – anschließend an die bisherigen Teile (1872–1918 in Wbl. 3/2023, S. 13–20; 1918–1938 in Wbl. 1/2024, S. 10–26) – auch im dritten Teil dieses Beitrags zur Geschichte der Wingolfsblätter nachgegangen werden.

Der Beitrag erschien im Original in den Wingolfsblättern 2/24 auf den Seiten 13–22. Autor ist Andreas Rode (Mz 88, Br 89, Mch 08). Die insgesamt 51 Fußnoten sind in der Onlinefassung nicht enthalten.

Er steht am Ende und am Beginn einer Ära des Wingolfs und der Wingolfsblätter: Dr. iur. Wilhelm Lütkemann (M 10, G 12 et al.). Als VAW-Vorsitzender hatte er die traurige Pflicht gehabt, den Wingolfsblättern das letzte Geleit zu geben. „Niemand wird uns schelten, daß der Abschied uns schmerzt, wie wenn wir den treuesten Freund ins Grab legten“, hatte er im September 1938 seinem „Nachruf“ geschrieben. Elf Jahre später, im November 1949, durfte er in Heft 1 der wiederbegründenden Wingolfsblätter Gott dafür danken, dass der Wingolf und mit ihm auch die Wingolfsblätter zu neuem Leben erwachten:

„ER hat es gewendet. In überraschend kurzer Zeit sind über ein Dutzend Wingolfsverbindungen wieder neu entstanden; sie haben in ihrem Zusammenschluß den Wingolfsbund wieder existent gemacht. Der Verband Alter Wingolfiten mit seinen Bezirksverbänden und die Philistervereine der einzelnen Verbindungen bestehen wieder in aller Form, und eine Wartburgtagung hat in der Pfingstwoche zu Eltville am Rhein Jung und Alt in Harmonie am Gesamtbau werken gesehen. Das Faktum ist also da. Gott hat es uns geschickt. Daß es ein Gutes werde, dafür haben wir nun zu sorgen, und da wir nichts ohne seinen Segen ausrichten können, setzen wir die Bitte darum als Überschrift über die erste Nummer unserer Wingolfsblätter.“

Aufbaujahre

Das Wiederauflebens des Wingolfs, das Lütkemann beschreibt, prägt die ersten Jahrgänge der neu entstandenen Wingolfsblätter. Als ein halbes Jahr nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland die erste Nachkriegsausgabe erschien, waren die Wingolfsverbindungen in Bonn, Darmstadt, Erlangen, Gießen, Göttingen, Heidelberg, Kiel, Marburg, Münster, Stuttgart und Tübingen bereits wiedergegründet. Als „ganz neue“ Wingolfsverbindungen existierten Braunschweig und Mainz sowie die Fraternitas Academica Hohenheim, deren Gründung unabhängig vom ehemaligen Hohenheimer Wingolf erfolgt war. Weitere Neu- und Wiedergründungen folgten, über die in den Wingolfsblättern freudig berichtet wurden.

Auch der Erwerb bzw. die Wiedererlangung der Verbindungshäuser war ein großes Thema: Davon zeugen zunächst kleine Anzeigen, wie diejenige aus dem Sommer 1951, in der es heißt: „Die frühere Satzung des Marburger Bauvereins wird in dem Verfahren betr. Wiedererwerb des Hauses dringend benötigt. Wer sie noch besitzt, sende sie sofort an …“ Im Verlauf der 1950er- und 1960er-Jahre folgen dann immer mehr Berichte über Hausbautätigkeiten, Wiedergewinnung von Wingolfshäusern und Hausweihen. Welchen Einsatz – sowohl an Arbeitskraft als auch an finanziellen Mitteln das forderte, lassen z. B. die Berichte über den Bau des Hauses in Darmstadt erahnen. Dieses war in den Jahren 1950 bis 1952 als erstes Wingolfshaus komplett neu errichtet worden. Das alte Haus hatte, wie die meisten Wingolfshäuser, in der Nazizeit erzwungenermaßen den Besitzer gewechselt. Doch an eine Rückforderung war nicht zu denken: „Sein derzeitiger Besitzer war schon vor dem Zusammenbruch wieder in der Lage, das Grundstück neu zu bebauen, was für uns insofern von Bedeutung wurde, als die Möglichkeit, einen Anspruch geltend zu machen, dadurch von vornherein entfiel“, heißt es in den Wingolfsbblättern. Mit vereinten Kräften wurde deshalb ein Grundstück erworben und von den Wingolfiten selbst von den Trümmern des zerbombten Vorgängerbaus freigeräumt. Dann erst konnte – ebenfalls größtenteils aus eigenen Kräften – die Errichtung eines Neubaus erfolgen.

Nicht weniger, wenn auch andere Schwierigkeiten brachten die Rückerstattungsverfahren mit sich. Im Mai 1955 dokumentieren die Wingolfsblätter den Rechtsstreit, an dessen Ende der Marburger Wingolf sein Haus zurückerhielt, und drucken die Urteilsbegründung des OLG Frankfurt/Main ab.

Ein Blick auf die in den Wingolfsblättern veröffentlichten Semesterberichte der einzelnen Wingolfsverbindungen offenbart auch in anderer Hinsicht einen Aufschwung: Die Zahl der Aktiven steigt kontinuierlich und die wirtschaftliche Lage bessert sich zunehmend. Ist anfangs fast durchgehend von beschränkten Räumlichkeiten, bescheidenen finanziellen Mitteln und behördlichen Behinderungen die Rede, werden bald schon die Stiftungsfeste üppiger und die Ausflüge häufiger – eine Entwicklung, die parallel zum ökonomischen Aufschwung der Bundesrepublik und den Jahren des „Wirtschaftswunders“ zu sehen ist. Auch die Berichte von Konventionen und Wartburgfesten – die damals noch immer in der Pfingstwoche von Dienstag bis Donnerstag stattfanden – spiegeln diesen Aufschwung. Neu ist dabei, dass Eisenach und die Wartburg nicht mehr zugänglich sind. Die Wartburgfeste finden daher an unterschiedlichen Orten statt – z. B. in Weilburg an der Lahn oder in Freudenstadt im Schwarzwald. In den Wingolfsblättern findet sich dann im Vorfeld neben den üblichen Informationen zum bevorstehenden Wartburgfest jeweils auch eine „touristische Werbung“ für die jeweilige Stadt.

Aufbau ist auch auf Verbandsebene erforderlich: Bei der Wartburgtagung in Eltville wird im Juni 1949 entschieden, die unter Zwang eingeleitete Liquidation des Verbandes Alter Wingolfiten (VAW) aufzuheben. In der Folge wurde – angelehnt an die alte Satzung – eine neue Satzung erarbeitet und in späteren Jahren immer wieder reformiert. Mit Beschluss des Wartburgphilistertages beim Wartburgfest in Siegen 1965 wurden zudem neben den Bezirksverbänden auch die Philistervereine Mitglieder des VAW. Über all diese strukturellen Veränderungen wird in den Wingolfsblättern debattiert, die Ergebnisse werden dokumentiert.

Was über all dieser Aufbruchsstimmung nicht in Vergessenheit geraten sollte: Diktatur und Krieg haben Millionen von Todesopfern gefordert. Andere haben in dieser Zeit schwere Verletzungen – physische wie psychische – davongetragen. Menschen werden vermisst, sind in Kriegsgefangenschaft, haben Familienangehörige und nahe Freunde verloren. Das alles betrifft auch den Wingolf und findet in den Wingolfsblättern seinen Niederschlag. Ein anrührendes Beispiel dafür ist der Artikel „Haus zerstört, Adresse unbekannt“ aus der Ausgabe vom Februar 1950. Lütkemann beschreibt hier die Schwierigkeiten, die sich mit der ersten Aussendung der Wingolfsblätter verbunden haben, und betont, dass „besonders der Brüder gedacht werden soll, die noch nicht erreichbar waren oder nicht mehr zu erreichen sind.“ Und weiter heißt es: „Unser Statistiker wird in langwieriger Arbeit ermitteln, wer gestorben, gefallen und durch den Krieg sonstwie umgekommen ist; ihre Zahl ist erschütternd groß! (…) In Ehren sollen auch alle die Angehörigen der Vollendeten gehalten werden, die wissen und bekunden, was der Wingolf ihrem Vater oder Bruder oder Mann oder Verlobten oder Sohn bedeutet hat, und die in seinem Namen an unserem Wiedererstehen Teil nahmen, unter Umständen sogar materielle Hilfe dazu leisteten.“

Ein ganz konkretes Beispiel dafür, welche Schicksale die Überlebenden belasten, wird von Lütkemann im November 1951 dokumentiert. Unter der Überschrift „Wie geht es unserem Rodenhauser?“ berichtet er, dass Rodenhausers Kriegsverletzung aus dem Ersten Weltkrieg inzwischen zu vollständiger Lähmung geführt hat. Nicht mehr arbeitsfähig hatten er und seine Frau bei Freunden im Sudetenland Aufnahme gefunden. Rodenhauser selbst hat Lütkemann – übermittelt durch seinen Sohn – von seinen Erlebnissen im Jahr 1945 berichtet: „Es folgte eine furchtbare Fluchtfahrt von 35 Tagen kreuz und quer durch die in Aufruhr befindliche Tschechoslowakei mit grauenhaften Erlebnissen und mit russischer Gefangenschaft. Ich verdanke die Rettung meines Lebens dem heldenmütigen Einsatz meiner Frau, die mich gelähmten, immer auf der Bahre liegenden Mann durch alle Schwierigkeiten und Gefahren unerschrocken hindurchlavierte.“

Rodenhausers Schicksal ist nur eines unter vielen, und viele haben sicherlich noch weitaus Schlimmeres erlitten. Dennoch gibt es eine Ahnung davon, mit welchen Erinnerungen und Erfahrungen die Wingolfiten jener Jahre belastet waren, auch und gerade die Aktiven, von denen nicht wenige an der Front und in Gefangenschaft Schreckliches erlebt hatten. Doch gerade der Verweis auf Rodenhauser, der als „Wingolfsführer“ den Arierparagraphen im Wingolf durchzusetzen hatte, lässt noch etwas anderes anklingen: Die Frage nach dem eigenen Schuldigwerden des Wingolfs und einzelner Wingolfiten und nach der Selbstverortung in der neuen Zeit. Auf diese beiden Aspekte soll in den nächsten Abschnitten eingegangen werden.

Ortsbestimmung

In einer Zeit, in der die Zeichen auf „Neuanfang“ stehen, ist es besonders wichtig, sich seiner selbst zu vergewissern und im Lichte früherer Erfahrungen – guter wie schlechter – nach dem eigenen Standort zu suchen. Solche Selbstverortung findet auch in den Wingolfsblättern statt. Angesichts der militärischen wie auch moralischen Katastrophe ist es, anders als 1918, dieses Mal keine Frage, dass der Wingolf als Ganzes sich rückhaltlos zur Demokratie und zum neu entstandenen Staatswesen bekennt. Dies wird weniger in dem einen großen programmatischen Artikel deutlich als vielmehr in dem Grundton, der bei den Beiträgen mitschwingt. Dr. Bernhard Dammermann (G 12, Gd 13), der in den 1950er-Jahren regelmäßig in den Wingolfsblättern publiziert, erinnert etwa unter der Überschrift „Student und Politik“ daran, dass „Partei“ vom lateinischen „pars“ komme. Davon ausgehend betont er, dass jede Partei nur Teil eines größeren Ganzen sei und daher niemals einen Absolutheitsanspruch für sich reklamieren können. Eine klare Absage an alles totalitäre Gedankengut! Vergleichbares lässt sich in den Wingolfsblättern immer wieder finden.

Angesichts dieses weitgehenden Grundkonsenses ist es ein echter Paukenschlag, als zu Anfang des Jahres 1962 unter der Überschrift „Gesellschaft ohne Gott und Kaiser“ ein längerer Artikel von Helmut Scheide (G 30, K 31, Bg 67) erscheint.9 Der Verfasser tritt deutlich für die Regierungsform der Monarchie ein und propagiert ein theologisch unterfüttertes „Gottesgnadentum“. Seine Thesen zusammenfassend schreibt er: „Die Lösung der Zeitprobleme fordert ein mutiges und frommes Geschlecht. Mögen die alten Autoritäten auch äußerlich zerbrochen sein, ihr Geist findet noch immer seine Bekenner. (…) In entscheidungsvollen Stunden wird man sich um die wenigen sammeln, die (…), stets dankbar für das Erbe der Väter auch des Geistes und der Haltung der Ahnen würdig leben wollen. Wer sich dem Zeitgeist und seinen Modetorheiten feige ergibt, ohne nach Recht und Gerechtigkeit zu fragen, wird nie ein freier Mann.“10 Dass die Redaktion der Wingolfsblätter unter Schriftleiter Erich Warmers (E 47, M 48, Ft 55) diesen monarchistisch geprägten Beitrag eher als Debattenbeitrag verstanden wissen wollte, zeigt sich darin, dass direkt im Anschluss an den zitierten Artikel Scheides im selben Heft Dr. Adolf Quast (G 29, Bg 49) unter der Überschrift „Korporation und Demokratie“ eine gänzlich andere, entschieden demokratische Position vertritt.

Das Echo, das Scheides Artikel hervorruft, ist jedenfalls beachtlich. Selten dürften die Wingolfsblätter so viele Leserzuschriften gehabt haben. Die Stellungnahmen im Folgeheft umfassen nicht weniger als zwölf Seiten. In einer einzigen Leserzuschrift wird Zustimmung bekundet, der Rest widerspricht Scheide vehement. Der Tübinger Wingolf gibt in seiner Stellungnahme sogar zu Protokoll: „Der Convent des Tübinger Wingolf distanziert sich von dem Artikel Gesellschaft ohne Gott und Kaiser‘ in Heft 1/62 der Wingolfsblätter (…) Der Tübinger Wingolf erkennt das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und die Verpflichtung, sich für die Wahrung und Förderung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung einzusetzen, als für sich verbindlich an. Dieser Beschluß wurde bei einer Enthaltung ohne Gegenstimme gefaßt.“ Weitere Leserzuschriften sowie eine – eher apologetische Stellungnahme – von Scheide selbst folgen in Heft 3.

Ein wichtiges Thema sind in diesen Jahren auch die Kritik weiter gesellschaftlicher Kreise, die den studentischen Korporationen unter den neuen politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten das Existenzrecht absprechen wollen. Gegen den Vorwurf des Anachronismus betont man in den Wingolfsblättern unter anderem, dass gerade Aspekte wie Zusammenhalt, brüderliches Füreinandereinstehen und nicht zuletzt das althergebrachte demokratische Konventsprinzip sehr wohl in die Zeit passen. Über die Jahre wird es immer wieder nötig, dass der Wingolf sich gegen solche Kritik von außen zur Wehr setzt. Prominentestes Beispiel ist aber sicherlich die bereits zu Beginn des Jahres 1950 erfolgte Auseinandersetzung mit der Position von Bundespräsident Theodor Heuß, der sich wiederholt skeptisch bis abwehrend zum Wiedererstehen der Korporationen äußert. Die Wingolfsblätter dokumentieren dazu eine Ansprache, die Heuß im Dezember 1949 an der Heidelberger Universität hält. Antworten unter anderem vom VAW-Vorsitzenden Lütkemann und vom Bundes-x Heinz Miederer (E 48, Hg 50) sind im gleichen Heft abgedruckt. Das Thema wird den Wingolf (wie die Verbindungen insgesamt) von nun an begleiten. Immerhin eins bewirkt die starke Kritik von außen: Die Korporationsverbände grenzen sich nicht mehr so sehr voneinander ab. Statt Arroganz und Dünkelhaftigkeit herrscht nur ein ernsthaftes Interesse an Zusammenarbeit vor, das im Convent deutscher Korporationsverbände (CDK) und im Convent deutscher Akademikerverbände (CDA) seinen organisatorischen Niederschlag findet. Berichte von dieser Zusammenarbeit und Informationen aus dem Leben anderer Dachverbände nehmen in den Wingolfsblättern jener Jahre einigen Raum ein.

Während in der oben skizzierten Frage nach der Existenzberechtigung studentischer Korporationen innerhalb des Wingolfs Einigkeit herrscht, gibt es deutlich unterschiedliche Ansichten zu Fragen des Comments. Kristallisationspunkt ist hier vor allem die Frage des Couleurtragens in der Öffentlichkeit. Abgesehen davon, dass eine Genehmigung der Behörden keineswegs selbstverständlich ist, stehen hier die Meinungen gegeneinander. Die Debatte lässt sich in den Wingolfsblättern über viele Jahre nachverfolgen: Bereits 1952 vermerkt z. B. Prof. Dr. H. G. Bluth (Gd 19, G 20) unter Bezugnahme auf einen zwei Ausgaben zuvor erschienenen Artikel von Dammermann: „Wir können nicht mehr (…) Form und Inhalt des Wingolfsgedankens problemlos nebeneinanderstellen.“ Die Debatte um studentische Symbolik wie Couleur, Vollwichs und Burschenfeier wird über die folgenden Jahre nicht abebben und 1968 einen neuen Höhepunkt erleben. Doch scheint die Mehrheit der Wingolfiten ihre Freude an den farbenfrohen äußeren Zeichen ihres Bundes zu haben. So ist es denn auch kein Wunder, wenn wiederholt mit unverkennbarer Freude Meldungen wie diese veröffentlicht werden: Anfang Februar 1967 „beschloß der Senat der Westfälischen Wilhelm-Universität, einem Antrag der farbentragenden Verbindungen entsprechend, bei bestimmten Anlässen innerhalb des Universitätsbereiches das bislang verbotene Farbentragen zu gestatten.“

Nebenbei bemerkt: Bis zur Mitte der 1960er-Jahre saßen auch noch viele Korporierte in den Studentenparlamenten und dem einen oder anderen AStA. Und so ist es auch nicht allzu verwunderlich, wenn man in den Wingolfsblättern lesen kann, dass das Studentenparlament Gießen „das Verbot des Farbentragens für eine unangemessene, unbefriedigende und unberechtigte Form der Auseinandersetzung“ hält.

Themen der Zeit

Der Wingolf sucht jedoch auch über die „typisch korporativen“ Fragen hinaus seine Position. Zu vielen religiösen, politischen und kulturellen Themen ist in den Wingolfsblättern etwas zu lesen. An dieser Stelle kann dies aus Platzgründen nur kursorisch mit kurzen Beispielen angerissen werden. Eher selten geht es um Technisches wie bei dem Artikel „Elektronenrechner als Bibliothekar“.

Was viele Wingolfiten beschäftigte, waren politische Fragen. So setzt sich etwa Dr. Ulrich Schneider (Bo 48) kritisch, aber nicht ohne Wohlwollen mit dem „Verhältnis der Korporationen zur SPD und zum SDS“ auseinander. Ein wichtiges Thema ist dabei der Blick die DDR und die ehemals deutschen Gebiete weiter im Osten. Hier treffen sich sowohl das politische Interesse als auch die ehrliche Sorge um konkrete Personen. Nahezu jeder hat Verwandte, Freunde oder eben Wingolfsbrüder, die betroffen sind. Ein Beitrag wie der Artikel „Wie lange gibt es noch den deutschen Osten?“ von Dr. Hans Hermann Schepermann (Bo 48) mag hier als Beispiel dienen.

Die Auseinandersetzung mit der „SBZ“, der „Sowjetischen Besatzungszone“, und später der DDR erfolgte aber nicht nur theoretisch. Die Wingolfiten wurden auch ganz praktisch tätig, was sich in den Wingolfsblättern spiegelte. Der bundesbrüderliche Zusammenhalt wirkte auch über die innerdeutsche Grenze hinweg und wiederholt wurde mit großem Erfolg zur „Osthilfesammlung“ des Wingolfs aufgerufen. Für solche konkrete Hilfe und noch mehr dafür, dass sie bei den Bundesbrüdern nicht in Vergessenheit geraten waren, gab es auch herzliche Danksagungen der Betroffenen in den Wingolfsblättern. Allerdings – und das führt die Besonderheit der Situation in anrührender Weise vor Augen – aus Furcht vor Repressionen nur anonym. So ist etwa im März 1955 unter der Überschrift „Ein Gruß aus dem Osten“ in den Wingolfsblättern zu lesen: „Hochverehrter, lieber Konphilister. Die unterzeichneten Wingolfsphilister aus … und Umgebung grüßen von einem schönen, einzigschönen Beisammensein bei Kph. … Dich und den ganzen Wingolfsbund von ganzem Herzen. Ich sende diesen Gruß zur Vorsicht aus Berlin ab. – Mehrere waren im Sommer in Westdeutschland, alle aber durch Aufenthalt bei Verwandten so gebunden, daß die Aufnahme neuer Verbindung mit dem Bund meist nicht gelang. Wir vergessen Euch nicht, dafür ist in vieler Hinsicht gesorgt.“ Nirgendwo in dem Abdruck wird ein Name genannt, stattdessen endet der Brief nur mit den Worten „Mit herzlichen und sehnsuchtsvollen Grüßen – 16 Unterschriften“. Immerhin: Noch waren Westreisen möglich. Wenige Jahre später sollte sich auch das ändern. „Mögen die Bande zwischen uns und Euch, je länger Deutschland geteilt bleibt, desto enger werden – und nicht loser. Die Zeiten rufen nach Beweisen erfinderischer Liebe und Verbundenheit.“ Unter den sich verschärfenden Bedingungen, wurde es schwierig, diesen Wunsch der „Ostphilister“ zu erfüllen.

Im Mai 1961 fragt Karl Kromphardt mit Blick auf die beiden deutschen Staaten: „Ist Koexistenz möglich?“ und gibt in dem nachfolgenden Artikel eine eher skeptische Antwort, aber auch er hat sicherlich nicht damit gerechnet, dass bereits wenige Monate später eine Mauer quer durch Berlin gebaut werden würde. In der ersten Hälfte der 1960er-Jahre ist überraschenderweise kaum etwas über den Mauerbau selbst in den Wingolfsblättern zu lesen. Möglicherweise hat man es angesichts der Prominenz des Themas in den allgemeinen Medien nicht für nötig gehalten, auch in den Wingolfsblättern ausführlich darüber zu debattieren. Hier spiegelte sich eher die direkte Hilfe und konkrete Verbundenheit, so etwa in den Anzeigen, in denen Werner Foerster-Baldenius v/o Foenius (Ch 19 et al.) um Unterstützungsgüter warb, die er auf seinen nicht ganz ungefährlichen Reisen den Conphilistern in der DDR überbringen konnte oder in den Berichten über die viele Jahre lang von der Clausthaler Wingolfsverbindung Catena ausgerichteten Ferienfreizeiten für Berliner Kinder.

Immer wieder neu hinterfragt wird, welche Position man als Christ zu Krieg und militärischer Rüstung einnehmen solle. Mit der Wiederbewaffnung Deutschlands setzen sich zu Beginn des Jahres 1957 gleich mehrere Beiträge auseinander. Ein Jahr später beziehen Dr. C. G. Schweitzer (H 10) und Ernst Wilm (H 21) unter der Überschrift „Muß und darf die Atomwaffe die Christen spalten?“ unterschiedliche Positionen zur Frage der nuklearen Bewaffnung im Ost-West-Konflikt.

Theologische Fragen spiele eine deutlich geringere Rolle als in früheren Zeiten, was vor allem daran liegen dürfte, dass der Anteil von Theologen im Wingolf gegenüber der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich gesunken ist. An der christlichen Selbstverortung des Wingolfs ändert das jedoch nichts, sie nach wie vor überall zu spüren. In einer Hinsicht hat die Auseinandersetzung mit Religionsfragen allerdings zugenommen: Da inzwischen mehr Katholiken ihren Weg in den Wingolf gefunden haben, wird nun auch öfter gelebte Überkonfessionalität angemahnt. Besonders prägnant wird dies deutlich, als der Kölner Wingolf sich 1961 mit einem Bundesantrag gegen das Singen von „Ein feste Burg ist unser Gott“ bei der Ernsten Feier des Wartburgfestes auflehnt und dieses Lied in den Wingolfsblättern als „Kampflied der Reformation“ bezeichnet. Auf diese – zugegebenermaßen etwas polemische Zuschreibung erntet er in den beiden Folgeheften vehementen Protest einiger evangelischer Theologen.

So weit ein kurzer Überblick über die Themen, mit denen sich die Wingolfsblätter bis 1967 beschäftigten. Dass dieser unvollständig bleiben muss, liegt angesichts der Fülle des Materials auf der Hand. Ein besonders wichtiges Thema wurde bisher jedoch allenfalls am Rande berührt: Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Wie stellten sich die Wingolfsblätter in jenen Jahren zu der Frage des Schuldigwerdens in der Zeit des Nationalsozialismus? Darauf soll im folgenden Abschnitt ausführlicher eingegangen werden.

Auseinandersetzung mit der Vergangenheit

Die erste Ausgabe der wieder erstandenen Wingolfsblätter ist zum großen Teil eine Dokumentation der Wartburgtagung, die vom 7. bis zum 9. Juni 1949 in Eltville am Rhein stattfand. In der Ernsten Feier setzt Pfarrer Willi Merten (M 18, Bo 19, Mz 49) bereits einige der Schwerpunkte, welche die Zeitschrift in den folgenden Jahren prägen werden. Er predigt über ein Wort aus dem Buch des Propheten Sacharja (4,60): „Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr Zebaoth.“

Merten interpretiert diesen Bibelvers als „ein Wort des Gerichts und zugleich ein Wort der Verheißung“. Dabei zieht er eine Parallele zur Gegenwart: „Heer und Kraft – Gott hat sie uns gründlich zerschlagen, er zerschlug unsre Städte, er verbrannte unsre Habe, er legte unser Volk in den Staub. In Strömen von Blut versanken Hochmut und sich selbst erhöhender Stolz, ertranken auf Macht und Gewalt gestützte Welteroberungspläne, schwanden die auf eigene Kraft trauenden Hoffnungen hin.“ Merten verweist auf die Toten des Wingolfs, er gedenkt „der Brüder aus unserer Mitte, die draußen auf den Schlachtfeldern fielen und derer, die – wie ein Paul Schneider – unter Henkershänden ihr Leben gelassen haben.“ Und voll Demut bekennt er: „Es ist nicht unser Verdienst, daß wir noch einmal neu anfangen dürfen. Es ist vielmehr ein Wunder vor unseren Augen und Gnade von Gott.“

Damit ist zunächst einmal der Ton für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gesetzt. Wie aber positionieren sich die Wingolfsblätter in den Folgejahren zu dieser Frage?

Im Februar 1950 drücken die Wingolfsblätter eine Rede des Bundes-x Heinz Miederer (E 48, Hg 50) ab, in der es heißt: „Daß der Wingolf mit einem überspitzten und falsch verstandenen Nationalismus nichts zu tun haben will, hat er klar und eindeutig bewiesen. Wir sind nicht mitgegangen, als das Pendel nach der einen Seite ausschlug, wir gehen auch nach der anderen Seite nicht mit.“

Dem heutigen Leser mögen angesichts dieser selbstsicheren Aussage Zweifel kommen. Einige der in der vorherigen Folge dieses Beitrags zur Geschichte der Wingolfsblätter zitierten Artikel aus den 1920er- und 1930er-Jahren sprechen doch eine andere Sprache. So eindeutig allem „überspitzten und falsch verstandenen Nationalismus“ abhold, wie Miederer es gerne sehen möchte, war der Wingolf in den 1920er- und 30er-Jahren sicherlich nicht gewesen. Eins jedoch lässt sich nicht bestreiten: Der Wingolf nach 1945 verabschiedet sich dezidiert von der früheren Art des „Hurrapatriotismus“. Oder, wie Dr. Rudolf Erkmann (Hg 25) es unter der Überschrift „Über unsere Vaterlandsliebe heute“ formuliert: „Vaterlandsliebe wird auf den Bannern des Wingolfs stehen, solange sie wehen. Aber es wird eine ganz andere sein müssen als die, die noch wir gepflegt. Sie sollte zunächst möglichst wenig Sache des Feierns sein, denn in seinem Rahmen ist sie am ersten in Gefahr, zum unfruchtbaren Rausch zu verflammen. Sie sollte ganz in die innere Linie der Verbindungsarbeit verlegt werden. Man sollte ihr dienen nicht mit dem Wort der Männer, die Deutschland gepriesen, sondern derer, die Deutschland auf sorgendem Herzen getragen haben.“

Ganz unumstritten war diese Position allerdings nicht. Bereits in der nächsten Folge erwidert Dr. Helmut Wohlfarth (Hg 24): „Ich glaube, es war eine echte Begeisterung, keine Gefühlswallung.“ Auf die Begeisterung in der Vaterlandsliebe zu verzichten, würde – so fürchtet er – die Gefahr mit sich bringen, „in eine noch sinnlosere Entleerung aller Werte zu geraten und die letzten Dämme zu beseitigen“.

Dass die Wingolfiten sich durchweg zum neuen, demokratischen Staatswesen bekannten, wurde oben bereits skizziert. Anders als in anderen Korporationsverbänden wurde es auch niemals ernsthaft in den Wingolfsblättern gefordert, dass man Deutscher sein müsse, um Wingolfit zu sein. Die gemeinsame Basis war das christliche Bekenntnis, nicht die Volkszugehörigkeit. Es bleibt jedoch die Frage, ob und inwieweit man sich der Vergangenheit – und zwar auch und vor allem ihren dunklen Seiten – stellte.

Der selbstkritische Blick und das Eingestehen von Schuld sind nie einfach. Oft braucht es den zeitlichen Abstand. Das war in der gesamten Gesellschaft der damaligen Bundesrepublik so und im Wingolf war es nicht anders. Ein erster Wendepunkt ist sicherlich das Heft 5 des Jahres 1954, in dem – leider ohne Nennung des Verfassers – unter der Überschrift „20. Juli“ die Vaterlandspauke abgedruckt ist, die auf dem Stiftungsfest des Hannoverschen Wingolfs gehalten wurde. In einer Zeit, in der manch einer in den Hitler-Attentätern vom 20. Juli 1944 noch Verräter sah, die ihren Eid gebrochen hatten, sprach der Hannoversche Redner von der „heiligen Verpflichtung, die uns das Erbe der Geschwister Scholl und ihrer Freunde und die Tat der Männer des 20. Juli 1944 in dieser Zeit und in der Gestaltung unseres Staatswesens auferlegt.“

Dass die Schriftleitung der Wingolfsblätter diese Überzeugung aus tiefster Seele teilt, zeigt sich darin, dass sie im März 1955 zwei Beiträge von Prof. Dr. Hans Rothfels abdruckt: Im März 1955 erscheint der Artikel „Wie stehen wir zur Geschichte?“, im Januar 1956 der Artikel „Zehn Jahre danach“, der sich mit dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Deutschlands im Mai 1945 beschäftigt. Hans Rothfels ist nicht irgendjemand: Er gilt als einer der renommiertesten Historiker und Begründer der modernen deutschen Zeitgeschichtsforschung. Seiner jüdischen Abstammung wegen wurde ihm 1934 sein Königsberger Lehrstuhl entzogen, nach kurzzeitiger Verhaftung im November 1938 gelang ihm 1939 die Emigration nach Großbritannien und von dort in die USA. 1951 kehrte er nach Deutschland zurück und übernahm eine Professur an der Universität Tübingen. Sein zuerst 1948 auf Englisch erschienenes Werk „Die deutsche Opposition gegen Hitler“ ist die erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem deutschen Widerstand. Mehrfach überarbeitet und erweitert galt sie jahrzehntelang als Standardwerk zu diesem Thema. Dass die Wingolfsblätter Hans Rothfels in den 1950er-Jahren einen so breiten Raum geben, ist sicherlich als ein sehr bewusstes Bekenntnis zu werten.

Im Januar 1957 erscheint erstmals eine ausführliche Würdigung des im Konzentrationslager Buchenwald ermordeten Wingolfiten Paul Schneider in den Wingolfsblättern. In Heft 4 desselben Jahres mahnte Hans Christhard Mahrenholz (G NStft 47, Hv NStft 52) unter der Überschrift „Der Wingolf wird vergeßlich“ eine intensivere Beschäftigung mit der jüngsten Vergangenheit, insbesondere mit der Durchsetzung des „Arierparagraphen“ an. Darüber empört sich zwei Hefte später Dr. Ernst August Lührs (Fr 19, G 20 et al.). Seiner Ansicht nach ist über die Vergangenheit genug gehandelt worden. Er schreibt u. a.: „Auch hier die Frage: cui bono?, wenn an Dinge gerührt wird, die endlich begraben sein sollten. ‚Arisierung des Wingolfs‘, sie liegt fast 25 Jahre und noch weiter zurück.“ Und einige Zeilen weiter schreibt Lührs: „Darum laßt ab von diesen Fragen. Wir können als Bund weder zum Hitlerstaat noch zu seinen einzelnen Problemen, wozu auch der 20.7.1944 gehört, irgendeine Stellung beziehen. Das ist Sache jedes einzelnen Bruders ganz für sich. Wir sollen und müssen da um der Brüder willen neutral und tolerant sein und bleiben.“ Dass eine solche Position keineswegs Mehrheitsmeinung im Wingolf ist zeigen die zahlreichen Zuschriften im Folgeheft, die alle betonen, wie wichtig die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit für den Wingolf sei.

Die Schriftleitung scheint das ähnlich zu sehen. Im selben Heft erscheint nämlich an erster Stelle ein Artikel des Journalisten Karl Marx, der nach der Rückkehr aus der Emigration als einer der Wiederbegründer der jüdischen Presse in Deutschland, gilt. Unter der Überschrift „Die neue Toleranz in Deutschland – Hat der Antisemitismus noch eine Chance?“ heißt es dort: „Ich stehe deshalb hinter dieser These von der Kollektivscham, die ja, im Gegensatz zur Kollektivschuld-These, keine Tatsache an sich wäre, unabhängig von der subjektiven Einstellung des einzelnen, sondern eine moralische Errungenschaft.“ Dem Artikel von Marx folgt ein zweiter, wingolfsspezifischer Beitrag mit der Überschrift „Wie kam es 1933 zur Forderung des Abstammungsnachweiseses im Wingolf? Wer trägt die Verantwortung dafür?“ In der Einleitung zu dem Beitrag heißt es:

„Die Zeit scheint uns reif zu sein, die Spalten der Wingolfsblätter obigem Thema zu öffnen. Es sind immerhin fast zehn Jahre ins Land gegangen, seit der Wingolf wieder auf dem Plan ist. Die praktischen Folgen jener Maßnahme sind längst beseitigt, nachdem die Bbr., die von der Lösungsweisung betroffen wurden, unsers Wissens alle in einer Haltung zu uns wiedergekommen sind, die Zeugnis dafür gibt, daß die wingolfitische Glaubensgemeinschaft doch gehalten hat. Sein Schuldbekenntnis hat der Wingolf als erste offizielle Erklärung bei der ersten Bundesveranstaltung nach dem Kriege in Marburg im Jahr 1948 gesprochen. Damals gab es die Wingolfsblätter noch nicht wieder; deshalb ist diese historische Tatsache nicht allgemein bekannt geworden. Nun ist die Frage erhoben, wieso denn jene unchristliche und unwingolfitische Maßnahme in unserer Gemeinschaft überhaupt geschehen konnte (…) und es ist Kritik am innersten Wesen des damaligen Wingolfs laut geworden (…). Wir haben daher den Historiographen des Wingolfs Dr. Dammermann (G 12, Gd 13) und den damaligen VAW-Vorsitzenden Dr. Lütkemann (M 10, G 12) gebeten, sich zu den einschlägigen Fragen zu äußern.“

Dammermann und Lütkemann geben nun eine sehr ausführliche und fundierte Stellungnahme ab. Darin schildern sie auch die Gewissenskonflikte, in denen sich Lütkemann selbst und vor allem Rodenhauser befunden hatten.

Manch andere Auseinandersetzung um die Vergangenheit lässt sich nur dann wahrnehmen, wenn man ein wenig zwischen den Zeilen liest: Im Januar 1958 bestellt der Geschäftsführende Ausschuss (der später Philisterrat heißt) erstmals wieder einen Generalsekretär. Die Wahl fällt auf Gerhard Mähner (Mch 29, E 53). Was dabei – zumindest in den Wingolfsblättern – an keiner Stelle erwähnt wird, ist die Tatsache, dass Mähner sich als junger Aktiver früh den Nationalsozialisten angeschlossen hatte und dann als Funktionär in der Reichsleitung des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes (NSDStB) massiv zur Gleichschaltung und schließlich zum Ende der studentischen Korporationen beigetragen hatte. Bekannt gewesen sein dürfte dies im Wingolf schon. Hugo Menze betont allerdings in der „Geschichte des Wingolfs“: „Doch inzwischen hatte Mähner, was die wenigsten wußten, die politische Verirrung seiner Jugend bereut, und er sah nun im neuerlichen Dienst am Wingolf eine selbstgewählte persönliche Wiedergutmachung.“ In der 2013 erschienenen Festschrift zum 100-jährigen Bestehen des Freiburger Wingolfs heißt es hingegen, Mähner habe zurücktreten müssen, „nachdem seine Vergangenheit im Nationalsozialismus bekannt wurde und ein Versuch, diese mit der Freiburger Aktivitas zu diskutieren, nicht zur Beruhigung der Gemüter beitrug.“ Ein solcher erzwungener Rücktritt ist zumindest aus den Veröffentlichungen in den Wingolfsblättern nicht zu ersehen. Dort wird die nationalsozialistische Vergangenheit Mähners nur einmal zum Thema: in dem im Januar 1959 erschienenen „Dichterwettstreit“.

Dieser „Dichterwettstreit“ ist in gewisser Weise symptomatisch für den Umgang des Wingolfs mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in den 1950er- und der ersten Hälfte der 1960er-Jahre: Der Wingolf hat eingestanden, dass sowohl die Deutschen insgesamt als auch der Wingolf selbst Schuld auf sich geladen haben. Seine für die damalige Zeit durchaus beachtenswerte Art, mit der Schuld umzugehen, blieb naturgemäß nicht ohne Widerspruch, wurde aber von einer breiten Mehrheit der Wingolfiten getragen.

Schwieriger war es, wenn es persönlich wurde: Der Wingolf hat in seinen Reihen Täter, Mitläufer und Opfer des Nationalsozialismus gehabt. Die meisten Wingolfiten, die diese Zeit erlebt hatten, dürften alles zugleich gewesen sein – denn jeder Mensch hat seine mutigen und seine weniger mutigen, seine klarsichtigen und seine weniger klarsichtigen Momente im Leben. Nun saß man wieder gemeinsam bei Veranstaltungen, diskutierte und feierte. Man half zusammen, um Neues aufzubauen. Junge und ältere Bundesbrüder kamen über vieles ins Gespräch, auch über die Zeit des Nationalsozialismus. Aber dies geschah sozusagen auf einer „allgemeinen Ebene“. Denn würde man als jüngerer Wingolfit an der Kneiptafel sein – möglicherweise durchaus geschätztes – Gegenüber nach dessen persönlicher Schuld im Nationalsozialismus befragen? Und würde der ältere so ganz nebenbei über seine inneren Verletzungen, seine Gewissenskonflikte und gegebenenfalls auch über sein Versagen plaudern? Über die Albträume, die in der Nacht die schrecklichen Dinge, die er erlebt hat, wieder an die Oberfläche holen?

Es braucht einen größeren zeitlichen Abstand, bis eine neue Generation beginnt, einzelne Personen und ihre Haltung im Nationalsozialismus in den Blick zu nehmen – das ist im Wingolf nicht anders als in der deutschen Gesellschaft insgesamt. Auch in dieser Hinsicht sind der Wingolf und die Wingolfsblätter Kinder ihrer Zeit. Ob es gelingt, diese Auseinandersetzung ehrlich – ohne Selbstbetrug, aber auch ohne falsche Überheblichkeit – zu führen, wird eines der Themen in der nächsten Folge des Beitrags zur „Geschichte der Wingolfsblätter“ sein.

Konzeptionelle und drucktechnische Veränderungen

Zum Schluss dieses Kapitels der Wingolfsblätter-Geschichte soll noch ein Blick auf die „Äußerlichkeiten“ geworfen werden – Äußerlichkeiten, die sehr wohl auch Rückschlüsse auf gewisse Veränderungen in Inhalt, Schwerpunktsetzung und Umfeld der Wingolfsblätter zulassen: Welche Veränderungen an Druckbild, Layout, Papier, Format usw. sind zu vermerken? Gibt es Rubriken, deren Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein für den Charakter der Wingolfsblätter von Bedeutung sind? Solcherart sind die Fragen, denen in diesem Abschnitt nachgegangen werden soll.

Die ersten Nachkriegshefte haben auf den ersten Blick noch dieselbe Anmutung wie die Wingolfsblätter der 1920er- und 1930er-Jahre: Das Format ist nach wie vor dasselbe (28,5 cm hoch, 20 cm breit – also etwas kleiner als das DIN-A4-Format), das Layout ist ähnlich. Auffallend ist zum einen die schlechte Qualität des Papiers, die der wirtschaftlichen Not der Nachkriegszeit geschuldet sein dürfte, zum anderen das stark wechselnde Schriftbild: Manche Teile sind in Fraktur gesetzt, andere nicht. Das mag zum Teil Absicht sein, um die unterschiedlichen Arten von Text stärker gegeneinander abzusetzen. Einen weiteren Grund nennt Schriftleiter Karl Mench (ClzM 31): Demzufolge „haben sich sowohl inhaltlich wie technisch verschiedene Schwierigkeiten ergeben. Einmal fehlte es an Manuskripten und zum anderen an ausreichendem Schriftmaterial, das heute nur wenige Druckereien in genügendem Maße zur Verfügung haben, zumal dieses Heft besonders viel Satzzeichen erforderte.“

Neu ist übrigens, dass bereits ab dem ersten Heft 1949 der auf etwas stärkeres hellblaues Papier gedruckte Umschlag auf der Vorderseite von einer Zeichnung der Wartburg geziert wird. Auf diese Weise soll sowohl an die Wurzeln des Wingolfs als auch an die jenseits der Grenze im Osten lebenden Wingolfiten erinnert werden.

Eine Änderung des Formats erfolgt 1951. Es ist jetzt 20 cm hoch und 13,5 cm breit, also etwas kleiner als das DIN-A5-Format. Mench schreibt dazu: „Gründe finanzieller und technischer Art haben den Vertreter-Konvent und den geschäftsführenden Ausschuß des VAW bewogen, die Wingolfsblätter mit dem 70. Jahrgang in dem hier vorliegenden Format erscheinen zu lassen.“ Das Papier ist nach wie vor von schlechter Qualität, der Druck zum größten Teil in Frakturschrift. Das neue Format ist, wie Mench betont, „handlicher“, allerdings ist es – zumindest für heutige Gewohnheiten – auch deutlich leseunfreundlicher. Denn mit dem kleineren Format musste auch vom zwei- zum einspaltigen Layout gewechselt werden. Der etwas lockerere Zweispaltensatz hatte, verbunden mit Zwischenüberschriften bei längeren Artikeln, dem Auge des Lesers einen gewissen Halt geboten. Jetzt waren meist mehrere eng bedruckte Seiten mit wenig Randfläche und ohne Zwischenüberschrift oder gar Illustration zu „überstehen“.

Mit dem 72. Jahrgang (1953) wird dann die Frakturschrift aufgegeben, die Texte sind nun etwas stärker untergliedert und auch die Zahl der Illustrationen steigt langsam wieder. Wie dreißig Jahre zuvor spiegelt sich auch hier eine positive wirtschaftliche Entwicklung: Die Zahl der Wingolfiten, die die Möglichkeit haben, zu fotografieren und Bildmaterial beizusteuern, nimmt zu. Anlässlich von Wartburgfesten gibt es nun auch wieder Sonderseiten auf glänzendem Bilderdruckpapier, die die Berichterstattung durch Fotos ergänzen.

Auch sonst lässt sich der wirtschaftliche Aufschwung an den im Zweimonatsrhythmus erscheinenden Wingolfsblättern ablesen: Die Papierqualität wird zunehmend besser, der Umschlag – ab dem 74. Jahrgang 1955 beige statt hellblau – ist nun aus einem festeren Karton. Und mit dem 84. Jahrgang 1965 steht dann die nächste Veränderung an: Das Layout wird modernisiert und ist nun wesentlich lesefreundlicher, das Format ist von nun an das vielen der heutigen Leser noch vertraute DIN C5 (22,5 cm hoch und 16 cm breit, also größer als DIN A5 und kleiner als DIN A4).

Aussagekräftig sind auch die Veränderungen der Rubriken. Unter „Ceterum censeo“ haben von 1955 an die Wingolfiten die Möglichkeit, in kurzer, prägnanter Weise Stellung zu allgemeinen wie wingolfitischen Themen zu beziehen. Ab 1959 wird diese Rubrik von „Pro und Contra“ abgelöst. Beide Rubriken sind bemüht, einen bundesbrüderlichen Dialog zu strittigen Themen in Gang zu setzen. Die Rubriken „Hochschul-Rundschau“ und „Was andere schrieben“ richten den Blick auf das, was in anderen korporativen Dachverbänden, hochschulpolitischen Gruppen und an den einzelnen Universitäten geschieht.

Eingestellt wurde hingegen eine andere Rubrik: 1951 beschloss die Redaktion der Wingolfsblätter, die Berichte aus den einzelnen Wingolfsverbindungen nicht mehr vollständig abzudrucken. Gegen einen empörten Bundesantrag des Mainzer Wingolfs verteidigt die Redaktion diese Entscheidung und erklärt – wozu Journalisten und Redaktionen nur allzu oft gezwungen sind –, dass die Auswahl, Kürzung und Bearbeitung von Beiträgen keineswegs gleichbedeutend mit Zensur sind, sondern nichts als die notwendige redaktionelle Tätigkeit, ohne die statt einer lesbaren Zeitschrift lediglich ein unverdaulicher Papierwust produziert werden würde. Wie richtig es war, die obligatorischen Semesterberichte aufzugeben, zeigt auf satirische Weise einige Jahre später H. P. Reinhard (Bo 50) auf. Unter der Überschrift „Semester-Spätlese 08/15“ präsentiert er einen Muster-Semesterbericht, der folgendermaßen beginnt:

„Wieder liegt ein Wintersemester hinter uns! Wir sind gewiß, daß unser Bemühen um die wingolfitische Sache nicht umsonst war, und daß sich dieses Semester würdig in die Reihe seiner Vorgänger einreiht. Unser Semesterplan, den die Chargierten auf dem Antrittskonvent vorlegten, brachte unser heißes Bemühen um Glauben, Wissenschaftlichkeit und Brüderlichkeit zum Ausdruck. Das Semester begann mit einer stilvollen Ernsten Feier (…). Darauf folgte eine feuchtfröhliche Antrittskneipe, die uns bis zum frühen Morgen in brüderlicher Runde vereinte.“

In diesem Ton geht es weiter, die jeweilige Wingolfsverbindung lässt sich mühelos nach Gutdünken einsetzen. Auf ähnliche Weise der „Phrasendreschmaschine“ den Kampf anzusagen, wäre heutzutage sicherlich nicht weniger notwendig und verdienstvoll.

Posted by Onlineredaktion in Geschichte
Zur 150-jährigen Geschichte der Wingolfsblätter (1872–1918)

Zur 150-jährigen Geschichte der Wingolfsblätter (1872–1918)

„Sie wollen keine Preßfreiheit, weil sie glauben, der Wind drehe sich nach der Wetterfahne“ – so spottete der Dichter und Journalist Ludwig Börne (1786–1837), einer der wichtigsten Vorkämpfer für Demokratie in Deutschland, einst über die Gegner der liberalen Bewegung. Mit diesen Worten spricht Börne, ein Dilemma an, dem sich jedes Medium, jeder Journalist immer wieder von Neuem stellen muss: Wind oder Wetterfahne?

In welchen Phasen ihrer Geschichte die Wingolfsblätter eher „Wind“ in welchen eher „Wetterfahne“ waren, dieser Frage soll in dem folgenden Beitrag zur Geschichte der Wingolfsblätter nachgegangen werden.

Der Beitrag erschien im Original in den Wingolfsblättern 3/23 auf den Seiten 13–20. Autor ist Andreas Rode (Mz 88, Br 89, Mch 08).

Gründerzeit und Gründerkrach

Die ersten Ausgaben der Wingolfsblätter präsentieren vor allem das Thema, das die Leser in Deutschland damals wohl am meisten beschäftigt haben dürfte: den Deutsch-Französischen Krieg und die Reichsgründung. „Erlebnisse Berliner Wingolfiten im Deutsch-Französischen Kriege 1870–71“, so ist der Hauptartikel überschrieben. Es folgen ein kriegerisch-patriotisches Gedicht über den Kampf um La Bouget (vgl. den Beitrag von Felix Plapper (Ef 22, Hg 22) in Wbl. 1/2023, S. 33f.) sowie eine tabellarische Übersicht über die Kriegsbeteiligung von Wingolfiten. Der Schrecken des Krieges kommt hier zur Sprache, vor allem aber auch die nationale Begeisterung, die mit dem Sieg und der folgenden Reichseinigung verbunden ist.
„Gründerzeit“ nennen Historiker die Jahre von 1871 bis 1873 nicht nur, weil es die Zeit der Reichsgründung war, sondern auch, weil im Zuge des ökonomischen Aufschwungs und der fortschreitenden Industrialisierung unzählige Firmen und Unternehmungen gegründet wurden. Es war eine Phase wirtschaftlicher Blüte, die mit dem sogenannten „Gründerkrach“, gipfelnd im Wiener Börsenkrach am „Schwarzen Freitag“, dem 9. Mai 1873 ihr vorläufiges Ende fand.

Die Begriffe „Gründerzeit“ und „Gründerkrach“ lassen sich aber auch für die Wingolfsblätter in jener Zeit verwenden: Dass der erste Schriftleiter, Felix Mühlmann (H 1867, Be 1869, Kg 21) bereits im Dezember 1871 eine vollständige „Probeausgabe“ produzierte und wingolfsweit versandte, war nicht zuletzt den wirtschaftlichen, technischen und gesellschaftlichen Veränderungen der Zeit zu verdanken: Die Industrialisierung hatte auch Veränderungen in der Drucktechnik mit sich gebracht. Der schnelle Druck großer Auflagen war möglich geworden und zugleich hatten zunehmende Alphabetisierung und das Streben nach politischer Emanzipation auch für eine Veränderung und ein Anwachsen der Leserschaft gesorgt. Ob Konservative, Liberale oder Sozialdemokraten; ob Katholiken, die sich in dem von Preußen dominierten Reich unterrepräsentiert fühlten, oder Protestanten – sie alle versuchten ihre Anhänger durch eigene Zeitungen zu mobilisieren. Der einflussreiche Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811–1877), bekannt als geistiger Vater der katholischen Soziallehre und Gegner des vom Ersten Vatikanischen Konzil verkündeten Unfehlbarkeitsdogmas, brachte es folgendermaßen auf den Punkt: „Der Einfluß der Presse auf die Entwicklung aller Verhältnisse der Gegenwart, auf die Denkweise und Gesinnung der Menschen ist unermeßlich und fortwährend im Wachsen.“

Der Wingolf hatte währenddessen seine eigene „Gründerzeit“ erlebt. Am Ersten Schleizer Konzil, bei dem der Name Wingolf angenommen wurde, hatten 1844 noch drei Vereine teilgenommen: Halle, Berlin und Erlangen (Uttenruthia, die nach einer Spaltung 1850 als Erlanger Wingolf neugegründet wurde). Hinzu kam Bonn, wo die Einladung zum Konzil nicht eingetroffen war. 27 Jahre später, als Mühlmann seine „Probenummer“ erscheinen ließ, waren – ungeachtet diverser Spaltungen, Auflösungen und Wiedergründungen – über zehn Wingolfsverbindungen hinzugekommen: Marburg (1847), Erlangen (1850), Rostock (1850), Dorpat (1850), Heidelberg (1851), Gießen (1852), Leipzig (1855), Straßburg (1857), Tübingen (1864), Greifswald (1867), Göttingen (1867) und Breslau (1871). Entsprechend war auch die Zahl der Wingolfiten gewachsen. Das stellte an die Kommunikation der Wingolfiten untereinander ganz neue Herausforderungen. Damit, sich von Zeit zu Zeit zu treffen und gelegentlich einen Rundbrief zu schreiben, war es nun nicht mehr getan. Kein Wunder also, dass Felix Mühlmann auch eine eigene Zeitschrift des Wingolfs für wünschenswert hielt.

Die erste „offizielle Ausgabe“ erschien am 30. Januar 1872 – acht Seiten in einem Format, das dem heutigen DIN-A4-Format (des es damals noch nicht gab) ähnlich ist. Die folgenden Ausgaben der zunächst in sechswöchigem, dann in zweiwöchigem Rhythmus, erscheinenden Wingolfsblätter waren dann etwas umfangreicher.

Auch ihren eigenen „Gründerkrach“ hatten die Wingolfsblätter zu bieten: Wingolfsverbindungen wie der hessische Marburger Wingolf oder der sächsische Leipziger Wingolf fürchteten, dass die preußische Dominanz im eben entstandenen deutschen Kaiserreich auch im Wingolf Wurzeln schlagen könnte. In dieser Situation sahen nun die einen in den Wingolfsblättern eine willkommene Diskussionsplattform, die anderen sahen die Gefahr, dass die Wingolfsblätter, deren erste drei Schriftleiter Berliner Erstbandträger waren – eine allzu einseitige Ausrichtung vertreten könnten. Das führte bereits auf dem Wartburgfest 1874 zu erbitterten, zum Teil wohl auch lautstarken Streitigkeiten. Ergebnis war, dass der Bund seinen Aktiven verbot, in den Wingolfsblättern öffentlich Stellung zu Prinzipfragen zu beziehen oder eine mögliche Veränderung am Ablauf von Verbindungs- und Bundesinstituten zu diskutieren. Auf diese Weise sollte der im Wingolf virulente Streit um das Für und Wider der „Kaiserrede“ aus den Wingolfsblättern herausgehalten werden.

Der Wingolf und die Wingolfsblätter stabilisieren sich

Bis 1913 sollte es dauern – dann erst wurde das oben beschriebene Verbot aufgehoben, wohl sehr zur Freude des ausgesprochen kaiserbegeisterten, von 1885 bis 1913 amtierenden Schriftleiters Wilhelm Sarges (Be 1869, M 1872 et al.). Zwar war der große Teil der Wingolfiten – und auch der Wingolfsverbindungen – „kaisertreu“, doch gab es einzelne Wingolfiten und Wingolfsverbindungen, die dezidiert andere Auffassungen vertraten. So kam es immer wieder zu Diskussionen und Zwistigkeiten um theologische und politische Fragen, die den Wingolf mehr als einmal an seine Grenzen brachen – bis hin zur zeitweiligen Auflösung vom Februar 1877 bis zum Mai 1880. All das spiegelt sich natürlich auch in den Wingolfsblättern, denn selbst wenn sich alle Aktiven an das oben beschriebene Verbot hielten, so galt dieses ja nicht für die Philister. Da man sich sehr wohl bewusst war, dass die Wingolfsblätter auch außerhalb des Bundes gelesen wurden und in öffentlichen Bibliotheken einsehbar waren, führte man für solche interne Diskussionen eine vertrauliche Beilage ein.
Auch wenn weiterhin in engagierter Weise debattiert wurde, so blieb es doch (zumindest meist) bei einem bundesbrüderlichen Ton. Die Wingolfsblätter etablierten sich zunehmend als Berichts- und Diskussionsmedium des Wingolfs. Dazu trug sicherlich auch bei, dass die Philister, die in den Anfangszeiten mehr oder weniger ein Anhängsel der aktiven Verbindungen gewesen waren und deren Status nicht endgültig geklärt war, sich zunehmend stärker organisierten: Aus Philistertagen, über die auch in den Wingolfsblättern berichtet wurde, entwickelten sich festere Strukturen bis hin zum 1901 gegründeten Verband Alter Wingolfiten (VAW) mit seinen Bezirksverbänden. Aber auch die Aktiven legten nach und nach ihre anfängliche Skepsis gegenüber den Wingolfsblättern ab. 1887 wurden die Wingolfsblätter als offizielles Organ des Wingolfsbundes (den VAW gab es ja noch nicht) anerkannt und auf dem Wartburgfest 1889 wurde eine „Preßkommission zur Unterstützung der Schriftleitung“ bestellt.

Im Vergleich zu den Anfangszeiten hatten die Wingolfsblätter inzwischen ein anderes Gesicht: Format und zweiwöchiger Erscheinungsrhythmus waren zwar gleichgeblieben, doch inhaltlich hatte sich einiges verändert: Zum einen waren die Themen der Beiträge wesentlich breiter gefächert. Offenbar schlug sich hier nieder, dass der Anteil der Theologen im Wingolf nun deutlich geringer geworden war, während die Zahl der Juristen, Mediziner, Philologen usw. angestiegen war. Zudem gab es seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auch Technische Hochschulen und Handelshochschulen, an denen sich Wingolfsverbindungen gründeten. Nach einigem Hin und Her war man bereit gewesen, auch die Studenten dieser Hochschulen als Wingolfiten zu akzeptieren, wenn man auch vielerorts zunächst fein säuberlich in einen „Universitätswingolf“ und einen „Technischen Wingolf“ trennte, sodass in Städten wie Berlin, Breslau oder München erstmals mehrere Wingolfsverbindungen nebeneinanderher existierten. Wie auch immer: Der Mitgliederbestand des Wingolfs und damit auch die Leserschaft der Wingolfsblätter war deutlich vielfältiger geworden. Angesichts dieser Veränderung sowie der Tatsache, dass sich eine „Freistudentenschaft“, die sogenannten „Finken“ herausgebildet hatte, die die Mitgliedschaft in einer Verbindung grundsätzlich nicht mehr als unbedingt erstrebenswert erachtete, fand auch im Wingolf ein Wandel statt: Erstmals gab es neben korporativen und religiösen Veranstaltungen auch Vorträge und sogenannte „wissenschaftliche Unterhaltungsabende“ in den Semesterprogrammen. Das schlug sich auch in den Wingolfsblättern nieder. Wolfhard Weber (M 59) schreibt dazu in der 1998 von Manfred Wieltsch (M 62) herausgegebenen „Geschichte des Wingolfs“: „Schließlich öffnete der Bund 1912 die Wingolfsblätter der allgemeinen offenen Diskussion über studentische Fragen insgesamt“ (S. 139). Weber weist an dieser Stelle auch ausdrücklich darauf hin, dass es bereits zuvor Beiträge in den Wingolfsblättern gegeben habe, die man in der Zeitschrift eines Korporationsverbandes jener Zeit nicht unbedingt habe erwarten können – so etwa einen, wenn auch nicht vorurteilsfreien Beitrag mit dem Titel „Die Sozialdemokratie und die deutsche Studentenschaft“ (Wbl. 1894, Nr. 14, S. 97ff.).

Noch etwas anderes hat sich ebenfalls verändert: In den Wingolfsblättern jener Zeit finden sich viele Inserate unterschiedlichster Natur: Familienanzeigen und Ankündigungen wingolfitischer Veranstaltungen standen selbstverständlich bereits vorher im Blatt, doch jetzt sind diese Anzeigen durch grafische Elemente wie Pfeile oder Rahmen aufbereitet. Hinzukommen aber auch Stellenangebote und Stellengesuche. Wingolfiten suchen Geschäftsbeziehungen und dienen sich der Leserschaft als Rechtsanwalt, Kurarzt oder Buchhändler an. Pfarrer bieten eine Sommerfrische in ihrem „idyllisch gelegenen Pfarrhaus“ an, Apotheker empfehlen ihre „photographischen Apparate und alle zugehörigen Bedarfsartikel“ – und so weiter und sofort. Kurz: Die Wingolfsblätter sind modern geworden.

Die „Witzblätter“

Dass dennoch nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen war, erkennt man unter anderem daran, dass 1911 ein (vergeblicher) Versuch unternommen wurde, zusätzlich zu den Wingolfsblättern eine „literarisch-politische Vierteljahresschrift“ des Wingolfs zu gründen. Offenbar waren einigen Philistern die Wingolfsblätter nicht ernsthaft und intellektuell genug. Nun, die ambitionierte Vierteljahresschrift hat es, wie gesagt nicht gegeben. Dafür erschien jedoch am 6. Juni 1911 ein ganz anderes wingolfitisches Druckwerk, das hier unbedingt erwähnt werden muss: Die „Witzblätter – Zeitschrift zum Wartburgfest, gegründet und redigiert von erstklassigen Kräften“. Hier wird die geplante „Vierteljahresschrift“ ordentlich auf die Schippe genommen. Der angebliche Vorort Würzburg (wo es 1911 noch längst keinen Wingolf gab) hat in seinem Festprogramm zum Wartburgfest als Höhepunkt ein „Ständchenbringen der Bundes-Confuxia vor Eisenacher Mädchenpensionaten“ eingeplant. Und zum Abschluss gibt es noch einen genial erfundenen Ausblick auf das Jahr 1920: Vorort ist dann der Dortmunder Wingolf (wahrscheinlich konnte man sich 1911 nicht vorstellen, dass in Dortmund jemals eine Universität, geschweige denn ein Wingolf existieren könnte). Die Anschaffung von schwarz-weiß-gold angestrichenen Luftschiffen wird für alle Wingolfsverbindungen verpflichtend gemacht. Wer sich solche Perlen einmal intensiver zu Gemüte führen will: Bbr. Felix Plapper (Ef 22, Hg 22) hat diese dankenswerterweise auf der Wingolfsplattform allen Interessierten zugänglich gemacht.

Eine blutige Zeit

Das Jahr 1911, in dem die „Witzblätter“ erscheinen, ist in den „eigentlichen“ Wingolfsblättern aber auch ein Jahr ernsthafter Diskussionen. Bereits seit längerer Zeit diskutierte Themen sind unter anderem die Alkohol- und Stofffreiheit sowie der Beitritt des Wingolfsbundes zur 1902 gegründeten „Anti-Duell-Liga“. Während diese sich gegen potenziell tödliche Duelle richtete, galt die studentische Mensur als gesellschaftlich vertretbar, wurde aber vom Wingolf für seine Mitglieder aus religiös-ethischen Gründen entschieden abgelehnt. Vonseiten der tonangebenden schlagenden Verbindungen standen die nichtschlagenden konfessionellen Verbindungen im Geruch der Feigheit. Dass sie dieses Vorurteil überwinden konnten, war, so makaber das klingen mag, ein Nebeneffekt des Ersten Weltkrieges, aus dem viele Wingolfiten nicht lebend zurückkommen sollten.

In den Wingolfsblättern – von 1913 bis 1919 unter der Schriftleitung Friedrich Ulmers (Mch Sft 1896, E 1897 et al.) – wurde der Kriegsbeginn wie fast im gesamten deutschen Bürgertum euphorisch gefeiert. „Der Sturm bricht los!“ steht in großen Lettern (deutlich größer als sonst in den Wingolfsblättern üblich) über dem Artikel von Carl Kinzel (Be 68). Und dann folgt ؘ– um der Bedeutung des Ereignisses Rechnung zu tragen – in ungewohntem Schriftbild (nämlich einspaltig und in größerem Schriftgrad als sonst) ein Text, der an den kriegerischen Erfolg von 1870/71 erinnert und schließlich mit dem folgenden Appell an die jungen Bundesbrüder, die in den Krieg ziehen, endet: „Reißt das Feuer vom Himmel herunter, laßt eure Seele durchglühen vom lebendigen Gott und tragt die heilige Flamme überall dahin, wo ihr steht. Zeigt im schweren Dienst, im Leiden und im Kampf und am Lager der Verwundeten, daß ihr Licht der Welt und Salz der Erde seid. So werdet ihr euch als echte Wingolfiten beweisen. So zieht hinaus mit eurem Gott fürs Vaterland. Unser Segen geleitet euch. Seid stark in dem Bewußtsein, daß Gott mit der gerechten Sache ist und, daß sich daheim betende Hände für euch erheben.“

Die Vereinnahmung Gottes für die eigene Seite und die unbedingte Kriegsbegeisterung, die aus diesen Worten klingt, lässt aus heutiger Sicht gruseln, trotz (oder gerade weil) mit dem russischen Überfall auf die Ukraine, die Gefahr eines größeren Krieges in Europa derzeit so groß ist, wie seit vielen Jahrzehnten nicht.

In seinem in Heft 2/2014 der Wingolfsblätter (S. 74–82) erschienenen Artikel „Der Wingolf im Ersten Weltkrieg“ betont Manfred Wieltsch (M 62) mit Blick auf das christliche Tötungsverbot und die im Wingolf von Anfang an geübte strikte Ablehnung von Duell und Mensur: „Es ist schon erstaunlich, dass im christlichen Wingolf eine solche Kriegsbegeisterung zu verzeichnen war.“ Zur Erklärung verweist er auf die damalige Gleichsetzung von Landesherr und Kirchenherr in der evangelischen Kirche sowie darauf, dass die meisten Wingolfiten – ebenso wie große Teile der Bevölkerung der Überzeugung waren, der Krieg sei ihnen aufgezwungen worden und man führe einen Verteidigungskrieg. Dies ist auch die Grundhaltung, die in dieser Zeit in den Wingolfsblättern vertreten wird.

Bereits wenige Wochen nach Kriegsbeginn hatten die Wingolfsblätter eine neue Rubrik mit dem Titel „Vom Kriege“. Aktuelle Nachrichten, Erlebnisberichte von Wingolfiten und literarische Texte über den Krieg waren hier versammelt. Und auch die ersten Gefallenen- und Verwundetenlisten erschienen in den Wingolfsblättern, bald schon ergänzt durch viele Seiten schwarz umrandeter Todesanzeigen für die Gefallenen.

„Es ist auffallend, wie bald in den Artikeln der Wingolfsblätter die anfängliche Stimmung der Kriegsbegeisterung in Erschütterung und Trauer umschlug“

merkt Manfred Wieltsch in seinem oben zitierten Artikel an.

Der Schock der Kapitulation

1914, am Vorabend des Ersten Weltkrieges, hatte sich in den Wingolfsblättern kaum ein Hinweis darauf finden lassen, dass die Welt auf einen Krieg zuging. Und auch 1918 war die drohende Kapitulation den Wingolfsblättern nicht zu entnehmen. „Das Gesuch um Waffenstillstand an die USA, der Rücktritt Ludendorffs, der Übergang zum parlamentarischen Regierungssystem werden nicht erwähnt“, stellt Hans Martin Triebel (E Nstft 47, G 48, Hv Nstft 52) in der Geschichte des Wingolfs verwundert fest (S. 160).

Rechnete man nicht mit einem solchen Ende? War man wirklich überrascht? Oder hätte man es als Defätismus angesehen, an ein solches Ende auch nur zu denken? Das wird sich wohl nur schwer klären lassen. Fakt ist jedoch, dass am 12. November 1918, also am Tag nach dem Waffenstillstand von Compiègne auf der ersten Seite der Wingolfsblätter ein Artikel von Schriftleiter Friedrich Ulmer erschien, in dem es hieß (zit. nach „Geschichte des Wingolfs, S. 160): „Was wird sein, wenn diese Zeilen (…) gelesen werden? Wer empfinden kann, der empfindet eine einzige unabsehbare Not, hinter der alles andere zurücktritt.“ Ulmer betont das Recht der Unterlegenen, ihre Niederlage und ihre Verluste zu betrauern. Er plädiert dafür, jetzt nicht nach Schuldigen zu fragen, sondern sich der ganz konkret vorhandenen Not zu stellen. Und in einer seltsamen Mischung aus Hoffnungslosigkeit und Gottvertrauen fährt er fort: „Wer will mehr sagen? Vom morgigen Tag? Wer weiß von Übermorgen? (…) Also auch ihr (…) seid in Gottes Hand.“

Die Entwicklung der Wingolfsblätter ab 1919 ist Thema in Heft 4/2023.

Posted by Onlineredaktion in Geschichte
Der Wingolf in Estland

Der Wingolf in Estland

Seine Wurzeln hat der 1844 begründete Wingolfsbund in Berlin, Bonn, Erlangen und Halle. Die Entfernungen zwischen diesen Universitätsstädten waren vor über 175 Jahren sicherlich nicht einfach zu bewältigen (die ersten Eisenbahn in Deutschland fuhr schließlich erst acht Jahre zuvor). Aber die Distanz die der Wingolfsgedanke dann hinlegte, ist heute immer noch beachtlich – und muss damals phänomenal gewesen sein. Schließlich näherte sich schon 1859 im heutigen Tartu, der Universitätsstadt in Estland, eine junge christliche Studentenverbindung an den Wingolf an.

„Erbaulicher“ und „Theologischer Abend“ als Ausgangspunkt

Im Jahr 1845 entstand an der Universität Tartu ein „Erbaulicher Abend“, bei dem sich Studenten „an jedem Samstag Abend“ vereinigten, „indem sie ein Lied sangen und eine Predigt vorlasen“. Dieser Erbauliche Abend legte den Grundstein für den Wingolf, der sich mit Gründungsdatum 24. Oktober 1850 erst zum „Theologischen Abend“ weiterentwickelte und anschließend mit dem an Turnvater Jahn angelehnten Wahlspruch „Frisch, fromm, fröhlich, frei!“ zur christlichen Studentenverbindung. Ab 1859 folgte die Annäherung an den Wingolfsbund, 1860 die Umbenennung in Arminia Dorpatensis sowie im Oktober auch die Anerkennung seitens der Universität durch den damaligen Prorektor Georg von Oettingen und 1862 beim 7. Wartburgfest die Aufnahme in den Wingolf. Vier Jahre später kam es jedoch zu einer ersten Vertagung, sprich Auflösung der studentischen Verbindung. In personeller wie programmatischer Hinsicht kann der 1867 gegründete Theologische Verein (Societas Theologica) als Nachfolgeorganistation angesehen werden.

Erste Neustiftung 1870…

Als christlich-überkonfessionelle Verbindung hatte die Arminia gegenüber den deutschbaltischen und urestnischen Verbindungen in Tartu trotz der Neustiftung 1870 jedoch einen schweren Stand, was 1883 zu einer langjährigen Vertagung der Aktivitas führte. Dennoch blieb die Tradition grundsätzlich ungebrochen gewahrt: Erst hielten die Philister die Verbindung am Leben, verliehen Bänder und beteiligten sich über die Stipendiumskasse am studentischen Leben, dann übernahm der 1923 gegründete Danziger Wingolf die Tradition und die Philister gründeten 1925 erstmals einen Philisterverein. Unterbrechungen gab es lediglich – äquivalent zu faktisch allen anderen Studentenverbindungen auch – während der Zeit im Dritten Reich, als der Danziger Wingolf suspendiert wurde und in Tartu während der ersten sowjetischen Besetzung 1940 auch der Theologische Abend und Arminia Dorpatensis seitens der neuen Verwaltung geschlossen wurde. Nach Kriegsende übernahm der Darmstädter Wingolf die Traditionspflege für die Arminia Dorpatensis und auch der Philisterverein rekonstituierte sich.

…zweite Neustiftung 1994

Im Mai 1994 erfolgte die Neustiftung vor Ort in Tartu und 1997 beim Wartburgfest die Wiederaufnahme in den Wingolfsbund. Der älteste Korporationsverband Deutschlands akzeptierte damit die vor allem über Philister gepflegte Traditionslinie, so dass die Verbindung gemäß Gründungsdatum an siebter Stelle geführt wird. Mit der Neustiftung wurde auch der ursprüngliche Wahlspruch in „Jumal, Vabadus, Isamaa!“” (estnisch: Gott, Freiheit, Vaterland!) geändert.

Schon gewusst?

Die Form der Kopfcouleur ist laut des Geschichtsmuseums der Universität Tartu identisch zu den Formen der Deckel der Korporation Baltica (1850–1856) und der zionistischen Korporation Hasmonaea (1923–1940) – beide ebenfalls aus Tartu.

Gegen Ende der 1860er Jahre wurde die „Stipendienkasse des theologischen Abends und der Arminia Dorpatensis“ eingerichtet, die jedoch erst 1910 eine offizielle Registereintragung erfuhr. Die Höhe des Stipendiums hing dabei von der wirtschaftlichen Situation des jeweiligen Studenten ab und konnte zwischen 25 und 300 Rubel pro Jahr liegen.

Nach der Vertreibung der Balten-Deutschen und dem Ende der sowjetischen Besetzung ist Arminia Dorpatensis die einzige Verbindung mit deutschbaltischem Ursprung, die sich im Baltikum rekonstituiert hat. Aufgrund des deutschen Ursprungs wurde die Arminia im Jahr 2012 daher auch in einem offiziellen touristischen Werbeflyer der Stadt Tartu erwähnt.

Das Korporationshaus der Verbindung wurde 1995 dem Theologen und Pfarrer Traugott Hahn gewidmet, der in Estland als Held des estnischen Befreiungskampfes gilt und christlicher Märtyrer ist. Anwesend bei der Zeremonie war auch dessen Sohn Wilhelm Hahn, u.a. ehemaliger Kultusminister Baden-Württembergs.

Dieser Text basiert auf dem Artikel Benutzer:Herr P. schreibt/Arminia Dorpatensis aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

Bilder: H2ppyme, Public domain, via Wikimedia Commons (Flagge), Michael Doeberl (Hrsg.), Public domain, via Wikimedia Commons (Wappen) – eigene Collage

Posted by Onlineredaktion in Aus dem Wingolf
Wie die Wingolfsverbindungen zu ihren Farben kamen (2/2)

Wie die Wingolfsverbindungen zu ihren Farben kamen (2/2)

In der letzten Ausgabe haben wir die doch oft ganz spannende Geschichten hinter den frühen Farbabweichungen im Wingolf kennengelernt. Und eines gehörte in den ersten Jahrzehnten des Wingolfs bei Farbabweichungen oft mit dazu: Streit im Bund um eben diese Farben. Denn der Gedanke eines einheitlichen Gesamtwingolfs, repräsentiert durch einheitliche Bundesfarben, war noch stark. So war es bis zum ersten Weltkrieg für Wingolfsneugründungen selbstverständlich nach Möglichkeit die Bundesfarben anzulegen. Im Folgenden sehen wir, dass dies bereits vor hundert Jahren nicht mehr der Fall war und eine Anlegeung der Bundesfarben, auch wenn es dies noch frei waren, nicht mehr selbstverständlich war, auch wenn es vereinzelt noch Stimmen gab, die sich dagegen aussprachen. Spätestens ab der Nachkriegszeit gab es gegen nicht notwendige Abweichungen von den Bundesfarben keinen (heute mehr fassbaren) Einspruch mehr.

Der Beitrag erschien im Original in Ausgabe 1/23 der Wingolfsblätter, der ersten Teil in Ausgabe 4/22 (online hier). Autor ist Jan Deventer (Mst 18).

Die Abweichungen in der Zwischenkriegszeit

Von den 16 Zwischenkriegsgründungen nahmen nur sieben die Bundesfarben an, zu denen auch der Jenenser Wingolf gehörte. Da es in Jena traditionell üblich ist, die Farben einer Verbindung von unten zu lesen, trägt der Jenenser Wingolf aus Sicht von Nicht-Jenensern die Bundesfarben verkehrt herum.

Der Hannoversche Wingolf entschied sich gegen die Bundesfarben, obwohl im Gegensatz zu anderen Beispielen keine andere Ortskorporation diese oder ähnliche Farben trug. Stattdessen wurde die Farbe der Technischen Universität violett in die Farben übernommen und ersetzte das Schwarz.i

Der Frankfurter Wingolf wählte bei seiner Gründung 1919 ebenfalls violett-weiß-gold, jedoch aus dem Grund, dass bereits ein Corps schwarz-weiß-gelb trug. Die alten Farben der Argentina Straßburg, dessen Tradition die Frankfurter übernommen hatten, fielen auch raus, denn ausgerechnet die Burschenschaft, die der Argentina bereits in Straßburg versagt hatte, zu ihren alten Farben zurückzukehren, verlegte 1919 nach Frankfurt. ii

Eine neue Erscheinung der 20er Jahre sind die Traditionsfarben: Der Hamburger Wingolf wollte ebenfalls die Tradition der Argentina übernehmen , weshalb er die alten Farben der Argentina Schwarz-Silber-Rot übernahm,iii wobei ein hellerer Rotton übernommen wurde. Dies führte zu einem Streit mit dem Frankfurter Wingolf,iv der schließlich Ende 1919 mit dem Verzicht auf die Tradition der Argentina endete. Jedoch behielt der Hamburger die Farben.v 1950 wurden allerdings dann die Bundesfarben angenommen als Zeichen der Traditionsübernahme des Königsberger Wingolfs. Die alten Farben silber und rot wanderten in die Perkussion.vi Bis heute sind die alten Argentinafarben beim Hamburger Wingolf im Rand von Mütze und Tönnchen, im Zipfel und Fuxenkordel, sowie im Chargenband und Vollwix erhalten geblieben. Die Argentina selber trug nach ihrer Reaktivierung Ende 1919 weiter Bundesfarben.

Der Danziger Wingolf übernahm bei seiner Gründung 1923 die Tradition und mit ihr die Farben schwarz-weiß-altgold der Arminia Dorpatensis,vii die zu dem Zeitpunkt schon seit 40 Jahren vertagt war.

Eine eigene Traditionslinie begann der Hohenheimer Wingolf, der 1922 als Tochterverbindung des Stuttgarter Wingolfs gegründet wurde. Er nahm die Farben dunkelrot-weiß-goldviii an. Warum Dunkelrot gewählt wurde, ist unklar. Möglicherweise wurde die Farbe den württembergischen Landesfarben (schwarz-rot) entlehnt. Der Hohenheimer Wingolf vertagte 1929 schon wieder. In Würzburg regte sich dagegen nach einer unrühmlichen kurzen Episode des Wingolfs Hohenstaufia zu Würzburg wieder Wingolfsleben. Eine neue Verbindung sollte gegründet werden, aufgrund der Hohenstaufia sollte sie zunächst nur eine dem Wingolf nahestehende Verbindung sein.ix Die entstandene Chattia zu Würzburg übernahm die Tradition und auch die Farben der Hohenheimer, x wobei der Rotton heller wurde und die Perkussion zu weiß/blau geändert wurde.

Ähnlich der Chattia zu Würzburg wurde 1928 in Wien die Verbindung Luginsland gegründet. Diese wählte die Farben rot-weiß-grün, die sie auch behielt als sie 1932 in den WB aufgenommen wurde und ihren Namen in Wingolf zu Wien änderte. Die Nähe zu den Nationalfarben Ungarns war nicht beabsichtigt.xi Bundesfarben und auch die typischen Ausweichfarben wie violett-weiß-gold oder rot-weiß-gold wurden bereits von Wiener Korporationen getragen.xii

In den 20er-Jahren entstanden drei Wingolfsverbindungen an Städten, in denen es bereits eine aktive Wingolfsverbindung gab, namentlich der Wingolf an der Handelshochschule Berlin, der Wingolf an der TH Breslau und der Wingolf Nibelungen Tübingen.xiii Bei den Wingolfsverbindungen an der HH Berlin und der TH Breslau handelte es sich um Gründungen an anderen Hochschulen in der Stadt, wodurch das Singularitätsprinzip als nicht verletzt galt. Dies war kein neues Phänomen, so wurde bereits 1894 der Charlottenburger Wingolf an der TH Berlin gegründet und auch in München gab es von 1901 bis 1908 einen eigenen Wingolf an der TH. In beiden Städten stellte es kein Problem dar, dass auch diese weiteren Verbindungen die Bundesfarben annahmen, so trug schließlich auch der 1924 gegründete Wingolf an der HH Berlin die Bundesfarben. In Breslau jedoch verboten die Statuen der Universität und der TH, dass Korporationen am Ort die gleichen oder sehr ähnliche Farben trugen. Deshalb nahm der Wingolf an der TH Breslau die Farben grün-weiß-gold an.xiv Das führte jedoch, wie schon vom Kieler Wingolf beim Münsterschen Wingolf, zu Protesten vom Marburger Wingolf. Es konnte kein Kompromiss gefunden werden, der von beiden Conventen angenommen wurde, weshalb die Breslauer schließlich auf die Farben verzichtete und dunkelgrün-silber-gold annahmen.xv Das Dunkelgrün hat bis heute in der Perkussion, Vollwix und der Kopfcouleur des Mainzer Wingolfs überlebt, der nach dem 2. Weltkrieg die Breslauer Tradition übernahm.

In Tübingen war die Situation allerdings eine andere. Die Aktivitas des Tübinger Wingolf war so groß geworden, dass das Verbindungsleben darunter litt und deshalb eine weitere Wingolfsverbindung vor Ort als eine sinnvolle Sache gesehen wurde. Um eine solche Gründung zu verwirklichen, setzte der Tübinger Wingolf im Sommersemester 1928 einen Gründungsausschuss ein. Diskussionsfragen waren darunter der Name und die Farben, denn die Wingolfsverbindungen sollten sich klar voneinander unterscheiden. So wurde der der Name Wingolf Nibelungen Tübingen und die Farben violett-weiß-gold gewählt. Bei den Diskussionen zeigte sich, dass es, trotz der mittlerweile zahlreichen Abweichungen von den Bundesfarben, noch immer Stimmen im Wingolf gab, die die Wahl von anderen Farben als den Bundesfarben nicht für richtig hielten.xvi Auch wenn die Tübinger Nibelungen nur sieben Jahre lang aktiv waren, so werden ihre Farben auch heute noch vom Tübinger Senior getragen.

Eine zu Tübingen sehr ähnliche Situation gab es auch in Marburg. Der Marburger Wingolf ging zunächst aber einen anderen Weg und teilte 1928 die Verbindung in drei Gruppen ein, die jeweils von einem Fuxmajor geleitet wurden. Diese Lösung bewährte sich jedoch nicht, so wurde 1930 der Clausthaler Wingolf nach Marburg geholt, der sich dort zuvor vertagt hatte. Probleme um Namen und Farben entfielen, jedoch musste der Clausthaler Wingolf zu Marburg die Bundesfarben, die er trug, umdrehen, um Verwechselungen mit einem Marburger Corps zu vermeiden.xvii

Abweichungen bei den Gründungen in der Nachkriegszeit bis heute

In der Nachkriegsgründungen setzt sich der Trend aus der Zwischenkriegszeit fort: Von den 16 Nachkriegsgründungen nahmen nur sieben die Bundesfarben an. Zu diesen gehört der Clausthaler Wingolf Catena. In Anlehnung an den Clausthaler Wingolf zu Marburg wurden die Bundesfarben in umgekehrter Reihenfolge übernommen. Es musste allerdings eine neue Perkussion zur Unterscheidung gewählt werden. Die Wahl fiel auf die Übernahme der Perkussion des Charlottenburger Wingolfs silber und schwarz. Eine Hommage an zwei der Gründer des ersten Wingolfs in Clausthal, zwei Charlottenburger Inaktive.xviii Ebenfalls die Bundesfarben übernahm der Osnabrücker Wingolf, jedoch wurde die Reihenfolge in weiß-schwarz-gold geändert in Anlehnung an die Stadtfarben Osnabrücks weiß-schwarz. Die rote Perkussion steht für den Münsterschen Wingolf, der eine große Rolle bei der Gründung spielte.xix

Die allererste Gründung nach dem 2. Weltkrieg geschah in Hohenheim mit der Fraternitas Academica. Die Gründung geschah ohne vorherige Verbindungen zum Wingolf oder anderen Vorkriegskorporationen. Gewählt wurden die Farben blau-weiß-gold passend zum Wahlspruch Glaube – Treue – Wahrheit.xx

Die Traditionslinie des alten Hohenheimer Wingolfs wurde ebenfalls weitergeführt. 1952 gründeten Philister der Chattia zu Würzburg als Tochterverbindung die WV Chattia zu Aachen, welche ebenfalls die alten Hohenheimer Farben übernahm, jedoch völlig neu anordnete zu Weiß-Gold-Rot. Durch diese Anordnung und die schwarze Perkussion werden die Bundesfarben angedeutet.xxi

Wie Osnabrück wählten einige andere Neugründungen ihre Farben in Anlehnung an die jeweiligen Stadtfarben. So wählte der Bochumer Wingolf und der Saarbrückener Wingolf blau-weiß-gold. In beiden Städten sind blau-weiß die Stadtfarben. Für die Perkussion des Bochumer Wingolfs wurden die Farben des Großherzogtum Bergs (silber-rot) gewählt, dessen Teil Bochum von 1806-13 war.xxii Auch Chattia zu Fulda wählte seine Farben in Anlehnung an die Stadtfarben Fulda. Doch gegen das gewählte grün-weiß-gold erhob der Marburger Wingolf wie schon damals bei BrII Einspruch, sodass Fulda das Grün abänderte und schließlich die Farben zu Gold-Weiß-Altgrün umdrehte.xxiii Bei der jüngsten aktiven Verbindung im Wingolf, dem Erfurter Wingolf Georgia mit ihren Farben karmesinrot-weiß-gold, war die Farbenwahl auch durch die Stadtfarben Erfurts (Rot-Weiß) inspiriert.xxiv

Die StV Wartburg zu Dortmund wurde zwar von Wingolfiten gegründet, durfte aber zunächst nicht Teil des Wingolfs werden, da es starke Vorbehalte dagegen gab, Verbindungen an Pädagogischen Hochschulen aufzunehmen.xxv Als Farben wurden Rot-Weiß-Gold gewählt, für die verschiedene Ursprünge in Frage kommen: Es könnten die Stadtfarben Dortmunds oder die Landesfarben Westfalens herangezogen worden sein. Aber es kann auch eine Anlehnung an die Farben des Münsterschen Wingolfs vermutet werden, denn auch wenn bei der Gründung keine Münsterschen Bundesbrüder beteiligte waren, so gab es von Anfang an ein enges Verhältnis zum Münsterschen Wingolf.xxvi Ab dem WS 1966 war die Wartburg schließlich Wingolfsverbindung, jedoch vertagte sie sich, wie der andere Ruhr-Wingolf in Bochum, bereits 1971 wieder.

Es wurden auch erstmals Verbindungen aufgenommen, die nicht als zumindest wingolfsnahe Verbindung gegründet wurde. So kam 1979 die CDStV Nibelungen zu Siegen in den Bund. Diese wurde 1962 als Verbindung im Technischen Cartellverband (TCV) gegründet und wählte die Farben blau-weiß-rot. Nach der Farbenstrophe haben die Farben folgende Bedeutung: Blau steht für die Nibelungentreue, Weiß für Tugend und Freude und Rot für die Liebe bis in den Tod.xxvii 1994 wurde die CStV Ottonia Magedeburg aufgenommen. Diese war, trotz Verbots in der DDR, 1977 durch eine Gruppe in der Magdeburger Hochschulgemeinde gegründet worden, die studentische Traditionen pflegte. Als in der Endphase der DDR Verbindungen in einem gewissen Rahmen zugelassen waren, existierte sie unter dem Dach des Kulturbundes der DDR in der Rudelburger Allianz und nahm 1988 die Farben Blau-Rot-Weiß an.xxviii Nach deren Farbenlied haben sie folgende Bedeutung: Blau steht für den Himmel, Rot für die Freiheit und Weiß für das Vaterland.xxix Beide Verbindungen behielten nach der Aufnahme ihre Farben. 1997 wurde die Ottonia allerdings wieder aus dem Wingolfsbund ausgeschlossen.

Schlussbemerkungen

Zum Schluss möchte ich mich bei allen Bundesbrüdern bedanken, die bei der Recherche geholfen haben.xxx Insbesondere bei den jüngeren Verbindungen und insbesondere bei denen, die relativ kurzlebig waren, war dies nicht immer ganz einfach. Und insbesondere bedanke ich mich bei Bbr. Felix Plapper (Hb17, Ef22, Hg22) für die Bereitstellung einiger der verwendeten Bilder.xxxi

Anmerkungen/Quellen

i# Fuxenmappe des Hannoverschen Wingolfs 2017, S. 78.

ii# Im Gründungsbericht des Frankfurter Wingolfs findet sich keine Begründung der Farbwahl (Wingolfsblätter 1919 S.277f). 1919 verlegte jedoch das Prager Corps Austria mit den Farben schwarz-weiß-gelb nach Frankfurt, was wohl der Grund für die nicht Annahme der Bundesfarben war. Die aus Straßburg stammende Burschenschaft Germania mit den Farben Schwarz-Silber-Rot war von 1919-1937 in Frankfurt und ist heute in Tübingen ansässig.

iii# Wingolfsblätter 1919 S.340.

iv# Wingolfsblätter 1919 S.381.

v# 50 Jahre Hamburger Wingolf, S.5.

vi# Wingolfsblätter 1951 S.17.

vii# Wingolfsblätter 1923 S.92.

viii# Heutige Darstellungen zeigen einen hellen Rotton, wie bei Kiel oder Chattia Würzburg, jedoch haben die Originalbänder des HmW einen dunkleren Rotton. Ebenfalls würde dies den anscheinend ausgebliebenden Protest aus Kiel erklären.

ix# Wingolfsblätter 2020, S.179.

x# Niebling, Max: Chronik des Wingolfs in Würzburg, Würzburg 2020, S.53ff.

xi# Dettmann, Jürgen: Abriss der Geschichte des Wingolfs zu Wien 1928 bis 1995, in: 75 Jahre Wingolf zu Wien, Wien 2003, S.25.

xii# Schwarz-weiß-gold trägt in Wien die Akad.B! Markomannia (DB), Violett-Weiß-Gold die KÖHV Nordgau (ÖCV), Rot-Weiß-Gold das Corps Marchia.

xiii# Der Hohenheimer Wingolf zählt nicht dazu, da Hohenheim erst 1942 nach Stuttgart eingemeindet wurde.

xiv# Wingolfsblätter 1920 S.209.

xv# Wingolfsblätter 1921 S.45.

xvi# Wingolfsblätter 1928, Vertrauliche Beilage zur Folge 7, S.7 – Wingolfsblätter 1928, Vertrauliche Beilage zur Folge 10, S.4. Gründungsbericht: Wingolfsblätter 1928, S.415.

xvii# Bericht zur Übersiedlung: Wingolfsblätter 1930 S.94. Bei dem Corps handelt es sich um das Corps Irminsul. Dieses fusionierte 1934 mit der Hanseatischen Verbindung Cheruskia zum heutigen Corps Irminsul Hamburg (WSC).

xviii# Fuxenskript des Clausthaler Wingolfs Catena, Clausthal Zellerfeld 2008, S 26. Teile der Stiftergeneration des Clausthaler Wingolfs von 1921 war mit Verlegung nach Marburg nicht einverstanden und trat aus und wurden vom Charlottenburger Wingolf aufgenommen. Der erste Philistervorstand der Catena wurde später von ihnen gestellt.

xix# Wingolfsblätter 1983, S. 109.

xx# Auskunft von Joachim Klein (St63, Hm66, Dp05, T13).

xxi# Wingolfsblätter 1952, S.112. Von unten gelesen werden auch die deutschen Nationalfarben angedeutet. Ob dies beabsichtigt war, ist allerdings unklar.

xxii# Saarbrücken: Wingolfsblätter 1958, S.42. Bochum: In dem Gründungsbericht (Wingolfsblätter 1967, S.3) wird die Farbenwahl nicht begründet. Den vermuteten Ursprung der Farben bestätigte Phil. Hildenbrand (Mst 61. BchStft 67).

xxiii# Wieltsch, Manfred: Geschichte des Wingolfs 1968-1994, in: VAW (Hg.): Geschichte des Wingolfs 1830-1994, Hannover 1998, S.346.

xxiv# Bestätigt durch Erfurter Bundesbrüder.

xxv# Vgl. Wingolfsblätter 1964, S.50: Die Gleichwertigkeit von Pädagogischen Hochschulen wurde bezweifelt und es wurde befürchtet, dass Verbindungen von solchen Hochschulen den Wingolf dominieren könnten, wenn an jeder eine Wingolfsverbindung gegründet werden würde. Die TU Dortmund ist erst einige Jahre nach der Diskussion gegründet worden.

xxvi# Entstehungsbericht im Antrag auf Aufnahme in das Gastverhältnis des Wingolfsbundes vom 5. Mai 1963 – Schreiben an den Münsterschen Wingolf vom 7. Mai 1963.

xxvii# Eisenberg, Reinke/Steiger, Uli: Wappenbuch des Wingolfs, Hannover 2017, S118.

xxviii# Wieltsch, Manfred: Geschichte des Wingolfs 1968-1994, in: Geschichte des Wingolf,S.360.

xxix# Weiß, Christian: „Blau-Rot-Weiße Farben wehen“ (1985), in: Kommersbuch des Wingolfs, Hannover 201210, S. 273.

xxx# Siegfried Rojahn (Mst88, Bo93, Je01), Pascal Hoppe (Mst 18), Joachim Klein (St63, Hm66, Dp05, T13), Jürgen Schmidt (M 65), Erhart Dettmering (M 59), Hanswerner Hildenbrand (Mst61, BchStft67), Hansgeorg Enzian (M66, et al.).

xxxi# Aus dem ersten Teil stammen aus Plappers Sammlung folgende Bilder: Silhoutte Christian Hosbach (M48), Wappen des kurhessischen Wingolfs, Bild der Arminia Heidelberg, Wappen der Argentina Straßburg (aufbereitetes Original aus: Miltsch, Otto: Vademecum, Erster Teil. Die Korporationen ohne Mensurverbot, München 1912) und das nachkolorierte Bild der Gründungsaktivitas von Wartburg Kiel.

Bild: Heidelberger Wingolf
Posted by Onlineredaktion in Geschichte
F.W. Raiffeisen – „Vater der Genossenschaftsidee“

F.W. Raiffeisen – „Vater der Genossenschaftsidee“

Der Deutsche Genossenschafts- und Raiffeisenverband (DGVR) ist mit 18,7 Millionen Menschen die mitgliederstärkste Genossenschaftsorganisation in Deutschland. Darüber hinaus ist der Name Raiffeisen mit zahlreichen genossenschaftlichen Unternehmen weltweit, besonders aber in Zentral- und Osteuropa, verbunden. Sie sind alle am Zeichen des Giebelkreuzes erkennbar, das zwei gekreuzte, auf einem Hausgiebel angebrachte stilisierte Pferdeköpfe zeigt – ein Schutzsymbol, das in alten europäischen Volkstraditionen wurzelt.

Ende 2016 wurde die die Genossenschaftsidee als Deutschlands erste UNESCO-Nominierung in die Repräsentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen. Prof. Christoph Wulf (Berlin), Vorsitzender des deutschen Auswahlgremiums für die Vorschläge zur internationalen Liste, in dem Bewerbungsschreiben vom Frühjahr 2015: „Die weltweit ersten Genossenschaften wurden vor rund einhundertfünfzig Jahren in Deutschland gegründet. Es ist ein Modell der Selbsthilfe und Selbstverwaltung (…) das immaterielle Kulturerbe bricht etablierte Kulturbegriffe auf und rückt Alltagskultur in ein neues Licht (…) Mit dem Verzeichnis ist die Chance verbunden, unser kulturelles Gedächtnis und damit die Bedeutung von Gemeinschaften wieder zu entdecken und nicht bei Individualismus und Leistungsdenken stehenzubleiben.“

Der Beitrag stammt von P. Riegelmeyer (Mst 54, E 55, H 02) und erschien ursprünglich in den Wingolfsblättern, der Zeitschrift des Wingolfsbundes.

Aus den Anfangszeiten des Wingolfs

Wer war jener Friedrich Wilhelm Raiffeisen, der zur ersten Wingolfsgeneration gehört und auf den alle diese Aktivitäten zurückgehen? Er wurde am 30. März 1818 in Hamm an der Sieg, im nördlichen Westerwald, geboren.

Sein Vater, ein Pfarrerssohn, war Bürgermeister in diesem Städtchen der preußischen Rheinprovinz. An den Besuch eines Gymnasiums war für den Jungen angesichts der finanziellen Lage der Familie nicht zu denken. Der Ortspfarrer unterrichtete ihn im Lesen, Schreiben und Rechnen, aber auch in den Inhalten der höheren Schulbildung. Mit siebzehn Jahren ging er zum Militär, und zwar zur 7. Preußischen Artilleriebrigade in Köln. Er strebte die Laufbahn eines technischen Offiziers an, wie wir heute sagen würden.

Vom Offizier zum Zivilisten

Mit vierundzwanzig Jahren – er übte bereits ein verantwortliches Amt in Sayn bei Koblenz aus – erkrankte Raiffeisen an einem Augenleiden, das ihn zwang, die militärische Karriere aufzugeben. Zum Glück stand ihm jedoch eine zivile Berufslaufbahn in der Verwaltung offen. Sie führte ihn bald in den Westerwald zurück, wo er nacheinander Bürgermeister von Weyerbusch, Flammersfeld und schließlich im am Fuße des Westerwalds am Rhein gelegenen Heddesdorf (heute ein Stadtteil von Neuwied/Rhein) wurde. Mit siebenundvierzig Jahren musste er sich wegen Verschlimmerung des Augenleidens pensionieren lassen. Das bedeutete freilich nicht, dass er sich endgültig zur Ruhe setzte. Im Gegenteil, er widmete sich nun mit voller Kraft seinem genossenschaftlichen Lebenswerk. Zur wichtigsten Helferin wurde dem fast Erblindeten seine 1846 geborene Tochter Amalie. Am 11. März 1888 ist Raiffeisen verstorben; er liegt in Neuwied begraben. Dort hat man ihm auch ein ansehnliches Denkmal gesetzt.

Kampf gegen Hunger und Armut

Raiffeisen war kein weltfremder Theoretiker. Trotz seines Augenleidens fehlte es ihm nicht an kritischem Scharfblick für die sozialen Nöte seiner Umgebung. Schon in Weyerbusch engagierte er sich auf mehreren Feldern: Er ließ eine Schule bauen und begann mit dem Bau einer Straße, den er an seinen späteren Wirkungsstätten fortsetzte und die schließlich bis Neuwied führte. Heute trägt sie den Ehrennamen „Historische Raiffeisenstraße“ und ist weithin mit der Bundesstraße 256 identisch.

Der Hungerwinter 1846 stellte Raiffeisen vor neue Herausforderungen. Die Missernte wirkte sich besonders im Westerwald stark aus. Viele Menschen hungerten und lebten in Armut. Auf eigene Faust gründete er den „Weyerbuscher Brotverein“. Der Plan war, dass die besser betuchten Einwohner das Geld, das sie entbehren konnten, zur Verfügung stellten. Natürlich zinsfrei. Die armen Leute erhielten also ebenso Mehl und gebackenes Brot, jedoch gegen einen Schuldschein. Somit verhungerten sie nicht und konnten nach Erholung ihrer Finanzen die Schulden zurückzahlen.

Der „Hedderdorfer Darlehenskassenverein“

Auch an seinen weiteren beruflichen Stationen ging Raiffeisen die jeweiligen Notstände einfallsreich an. In Flammersfeld bekämpfte er ein Dauerproblem, den Wucher mit drei- bis vierhundert Prozent, was die unerfahrenen Bauern nicht überblickten. Raiffeisen lieh ihnen Geld, und wiederum gaben die Reichen das Kapital. Dieses System von Darlehen und Rückzahlung mündete schließlich 1864 in die Gründung des „Heddesdorfer Darlehnskassen-Vereins“, der ersten echten Genossenschaft, die auf Selbsthilfe und Solidarität gründet. Damit war der Grundstein gelegt zu einem Gemeinschaftswerk, das, auf christlichen Motiven beruhend, auch nach Raiffeisens Tod weiterwuchs und heute die eingangs angedeuteten internationalen Dimensionen erreicht hat.

Im fernen Berlin wirkte ungefähr zur gleichen Zeit der Sozialpolitiker Hermann Schulze-Delitzsch (1808-1883). Er war im Gegensatz zu Raiffeisen nicht aus christlicher Verantwortung als Kreditgeber motiviert, wenn er Darlehen an städtische Handwerker und Händler vergab. Zehn Jahre lang gab es zwischen beiden Reformern Streit um das Prinzip der langfristigen Kredite. Keiner von beiden konnte ahnen, dass heute ihre Schöpfungen unter einem gemeinsamen Dach leben: Volksbanken und Raiffeisenbanken.

Ein Nicht-Akademiker als Wingolfit

Wie kam der Offiziersanwärter Raiffeisen, der nie eine Universität von innen gesehen hat, in Kontakt mit dem Wingolf, einer akademischen Gemeinschaft? Er war im Rahmen seiner Ausbildung zum Oberfeuerwerker (wie das damals hieß) zum Besuch der Inspektionsschule nach Koblenz kommandiert worden. Dort verkehrte er im Hause seines Paten, des Lehrers Bungeroth, mit dessen Söhnen er Freundschaft schloss. Durch sie kam Raiffeisen in Berührung mit einem Kreis Koblenzer Gymnasiasten, von denen einige später zu den Gründern des Bonner Wingolfs gehörten. Schon hier entstand der Brauch, der später in Bonn fortgeführt wurde: Die Freunde gaben einander Spitz- oder Kneipnamen! Raiffeisen hieß „Miles“ in Anspielung auf seinen militärischen Status. Er wurde in diesem Kreis nicht als Fremdkörper empfunden; die Freundschaft trübte kein Zeichen von Dünkel oder Besserwisserei.

Über die nicht unkomplizierte Frühgeschichte des Bonner Wingolfs kann man sich bei Hans Waitz in seiner „Geschichte der Wingolfsverbindungen“ (Darmstadt 1914) informieren. Raiffeisen erlebte hier die Fortsetzung der harmonischen Koblenzer Gemeinsamkeit. Auch mit den ihm bisher unbekannten Wingolfsbrüdern stellte sich ungetrübte Gemeinschaft her. „Von Köln aus, wo der junge Oberfeuerwerker nun wieder Dienst tut, kann er schnell und leicht die studentischen Zusammenkünfte erreichen. Er nimmt fast regelmäßig daran teil“ (aus: „Nachrichten für die Philister des Bonner Wingolfs“, abgedruckt in Wbl. 1969/1, S. 12).

Satzungsdiskussionen, in welchem Verhältnis Raiffeisen, der ja nicht Student war, zum Bunde stand, wurden offenbar als überflüssig angesehen. Raiffeisen war ganz gewiss keine Randfigur und wurde auch von den Brüdern nicht als eine solche betrachtet. Zu seinem vierundzwanzigsten Geburtstag widmen seine alten Koblenzer Freunde, aber auch mehrere jüngere Wingolfiten „ihrem lieben Freund F. W. Raiffeisen“ ihre in Kohle gezeichneten Brustbilder „zur steten Erinnerung“. Über diese Bilder freute sich „Miles“ mehr als über alle anderen Geschenke.

Die „köstlichste aller Wissenschaften“

Raiffeisens Übergang in den zivilen Verwaltungsdienst trennte die Freunde nicht. Es gibt aus den späteren Jahren viele Zeugnisse treuer Verbundenheit. Wir dürfen sicher annehmen, dass Raiffeisen für sein lebenslanges sozialreformerisches Engagement wesentliche Anregungen aus dem Geist des Wingolfs empfangen hat. Das offenkundige Motto seines Einsatzes hat er selbst in dem folgenden, sprachlich dem Geist der Zeit geschuldeten Satz ausgedrückt: „O, es ist die köstliche Wissenschaft, ja die köstlichste aller Wissenschaften, zu erforschen, wie man die Bruderliebe, die Nächstenliebe am hülfreichsten und segensreichsten zur Ausführung bringt.“

Seinerseits hat er wiederum „die geistlichen Führer auf dem Lande“, wie es in einer der Zeit geschuldeten für uns ungewohnten Sprache in den Wingolfsnachrichten des Jahres 1938 heißt, die Pfarrer und ärzte, die Richter und Lehrer zur – damals selbstverständlich ehrenamtlichen – Mitarbeit an der genossenschaftlichen Arbeit aufgerufen. Es wird uns nicht wundern, dass unter denen, die sich rufen ließen, besonders viele Wingolfiten waren, von denen eine ganze Reihe namentlich bekannt ist. So sind Raiffeisens Anliegen und sein Lebenswerk von Grund auf mit dem Prinzip unseres Bruderbundes identisch.

Bild: Autor/-in unbekanntUnknown author, Public domain, via Wikimedia Commons
Posted by Onlineredaktion in Geschichte