Zur 150-jährigen Geschichte der Wingolfsblätter (1872–1918)

„Sie wollen keine Preßfreiheit, weil sie glauben, der Wind drehe sich nach der Wetterfahne“ – so spottete der Dichter und Journalist Ludwig Börne (1786–1837), einer der wichtigsten Vorkämpfer für Demokratie in Deutschland, einst über die Gegner der liberalen Bewegung. Mit diesen Worten spricht Börne, ein Dilemma an, dem sich jedes Medium, jeder Journalist immer wieder von Neuem stellen muss: Wind oder Wetterfahne?

In welchen Phasen ihrer Geschichte die Wingolfsblätter eher „Wind“ in welchen eher „Wetterfahne“ waren, dieser Frage soll in dem folgenden Beitrag zur Geschichte der Wingolfsblätter nachgegangen werden.

Der Beitrag erschien im Original in den Wingolfsblättern 3/23 auf den Seiten 13–20. Autor ist Andreas Rode (Mz 88, Br 89, Mch 08).

Gründerzeit und Gründerkrach

Die ersten Ausgaben der Wingolfsblätter präsentieren vor allem das Thema, das die Leser in Deutschland damals wohl am meisten beschäftigt haben dürfte: den Deutsch-Französischen Krieg und die Reichsgründung. „Erlebnisse Berliner Wingolfiten im Deutsch-Französischen Kriege 1870–71“, so ist der Hauptartikel überschrieben. Es folgen ein kriegerisch-patriotisches Gedicht über den Kampf um La Bouget (vgl. den Beitrag von Felix Plapper (Ef 22, Hg 22) in Wbl. 1/2023, S. 33f.) sowie eine tabellarische Übersicht über die Kriegsbeteiligung von Wingolfiten. Der Schrecken des Krieges kommt hier zur Sprache, vor allem aber auch die nationale Begeisterung, die mit dem Sieg und der folgenden Reichseinigung verbunden ist.
„Gründerzeit“ nennen Historiker die Jahre von 1871 bis 1873 nicht nur, weil es die Zeit der Reichsgründung war, sondern auch, weil im Zuge des ökonomischen Aufschwungs und der fortschreitenden Industrialisierung unzählige Firmen und Unternehmungen gegründet wurden. Es war eine Phase wirtschaftlicher Blüte, die mit dem sogenannten „Gründerkrach“, gipfelnd im Wiener Börsenkrach am „Schwarzen Freitag“, dem 9. Mai 1873 ihr vorläufiges Ende fand.

Die Begriffe „Gründerzeit“ und „Gründerkrach“ lassen sich aber auch für die Wingolfsblätter in jener Zeit verwenden: Dass der erste Schriftleiter, Felix Mühlmann (H 1867, Be 1869, Kg 21) bereits im Dezember 1871 eine vollständige „Probeausgabe“ produzierte und wingolfsweit versandte, war nicht zuletzt den wirtschaftlichen, technischen und gesellschaftlichen Veränderungen der Zeit zu verdanken: Die Industrialisierung hatte auch Veränderungen in der Drucktechnik mit sich gebracht. Der schnelle Druck großer Auflagen war möglich geworden und zugleich hatten zunehmende Alphabetisierung und das Streben nach politischer Emanzipation auch für eine Veränderung und ein Anwachsen der Leserschaft gesorgt. Ob Konservative, Liberale oder Sozialdemokraten; ob Katholiken, die sich in dem von Preußen dominierten Reich unterrepräsentiert fühlten, oder Protestanten – sie alle versuchten ihre Anhänger durch eigene Zeitungen zu mobilisieren. Der einflussreiche Mainzer Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811–1877), bekannt als geistiger Vater der katholischen Soziallehre und Gegner des vom Ersten Vatikanischen Konzil verkündeten Unfehlbarkeitsdogmas, brachte es folgendermaßen auf den Punkt: „Der Einfluß der Presse auf die Entwicklung aller Verhältnisse der Gegenwart, auf die Denkweise und Gesinnung der Menschen ist unermeßlich und fortwährend im Wachsen.“

Der Wingolf hatte währenddessen seine eigene „Gründerzeit“ erlebt. Am Ersten Schleizer Konzil, bei dem der Name Wingolf angenommen wurde, hatten 1844 noch drei Vereine teilgenommen: Halle, Berlin und Erlangen (Uttenruthia, die nach einer Spaltung 1850 als Erlanger Wingolf neugegründet wurde). Hinzu kam Bonn, wo die Einladung zum Konzil nicht eingetroffen war. 27 Jahre später, als Mühlmann seine „Probenummer“ erscheinen ließ, waren – ungeachtet diverser Spaltungen, Auflösungen und Wiedergründungen – über zehn Wingolfsverbindungen hinzugekommen: Marburg (1847), Erlangen (1850), Rostock (1850), Dorpat (1850), Heidelberg (1851), Gießen (1852), Leipzig (1855), Straßburg (1857), Tübingen (1864), Greifswald (1867), Göttingen (1867) und Breslau (1871). Entsprechend war auch die Zahl der Wingolfiten gewachsen. Das stellte an die Kommunikation der Wingolfiten untereinander ganz neue Herausforderungen. Damit, sich von Zeit zu Zeit zu treffen und gelegentlich einen Rundbrief zu schreiben, war es nun nicht mehr getan. Kein Wunder also, dass Felix Mühlmann auch eine eigene Zeitschrift des Wingolfs für wünschenswert hielt.

Die erste „offizielle Ausgabe“ erschien am 30. Januar 1872 – acht Seiten in einem Format, das dem heutigen DIN-A4-Format (des es damals noch nicht gab) ähnlich ist. Die folgenden Ausgaben der zunächst in sechswöchigem, dann in zweiwöchigem Rhythmus, erscheinenden Wingolfsblätter waren dann etwas umfangreicher.

Auch ihren eigenen „Gründerkrach“ hatten die Wingolfsblätter zu bieten: Wingolfsverbindungen wie der hessische Marburger Wingolf oder der sächsische Leipziger Wingolf fürchteten, dass die preußische Dominanz im eben entstandenen deutschen Kaiserreich auch im Wingolf Wurzeln schlagen könnte. In dieser Situation sahen nun die einen in den Wingolfsblättern eine willkommene Diskussionsplattform, die anderen sahen die Gefahr, dass die Wingolfsblätter, deren erste drei Schriftleiter Berliner Erstbandträger waren – eine allzu einseitige Ausrichtung vertreten könnten. Das führte bereits auf dem Wartburgfest 1874 zu erbitterten, zum Teil wohl auch lautstarken Streitigkeiten. Ergebnis war, dass der Bund seinen Aktiven verbot, in den Wingolfsblättern öffentlich Stellung zu Prinzipfragen zu beziehen oder eine mögliche Veränderung am Ablauf von Verbindungs- und Bundesinstituten zu diskutieren. Auf diese Weise sollte der im Wingolf virulente Streit um das Für und Wider der „Kaiserrede“ aus den Wingolfsblättern herausgehalten werden.

Der Wingolf und die Wingolfsblätter stabilisieren sich

Bis 1913 sollte es dauern – dann erst wurde das oben beschriebene Verbot aufgehoben, wohl sehr zur Freude des ausgesprochen kaiserbegeisterten, von 1885 bis 1913 amtierenden Schriftleiters Wilhelm Sarges (Be 1869, M 1872 et al.). Zwar war der große Teil der Wingolfiten – und auch der Wingolfsverbindungen – „kaisertreu“, doch gab es einzelne Wingolfiten und Wingolfsverbindungen, die dezidiert andere Auffassungen vertraten. So kam es immer wieder zu Diskussionen und Zwistigkeiten um theologische und politische Fragen, die den Wingolf mehr als einmal an seine Grenzen brachen – bis hin zur zeitweiligen Auflösung vom Februar 1877 bis zum Mai 1880. All das spiegelt sich natürlich auch in den Wingolfsblättern, denn selbst wenn sich alle Aktiven an das oben beschriebene Verbot hielten, so galt dieses ja nicht für die Philister. Da man sich sehr wohl bewusst war, dass die Wingolfsblätter auch außerhalb des Bundes gelesen wurden und in öffentlichen Bibliotheken einsehbar waren, führte man für solche interne Diskussionen eine vertrauliche Beilage ein.
Auch wenn weiterhin in engagierter Weise debattiert wurde, so blieb es doch (zumindest meist) bei einem bundesbrüderlichen Ton. Die Wingolfsblätter etablierten sich zunehmend als Berichts- und Diskussionsmedium des Wingolfs. Dazu trug sicherlich auch bei, dass die Philister, die in den Anfangszeiten mehr oder weniger ein Anhängsel der aktiven Verbindungen gewesen waren und deren Status nicht endgültig geklärt war, sich zunehmend stärker organisierten: Aus Philistertagen, über die auch in den Wingolfsblättern berichtet wurde, entwickelten sich festere Strukturen bis hin zum 1901 gegründeten Verband Alter Wingolfiten (VAW) mit seinen Bezirksverbänden. Aber auch die Aktiven legten nach und nach ihre anfängliche Skepsis gegenüber den Wingolfsblättern ab. 1887 wurden die Wingolfsblätter als offizielles Organ des Wingolfsbundes (den VAW gab es ja noch nicht) anerkannt und auf dem Wartburgfest 1889 wurde eine „Preßkommission zur Unterstützung der Schriftleitung“ bestellt.

Im Vergleich zu den Anfangszeiten hatten die Wingolfsblätter inzwischen ein anderes Gesicht: Format und zweiwöchiger Erscheinungsrhythmus waren zwar gleichgeblieben, doch inhaltlich hatte sich einiges verändert: Zum einen waren die Themen der Beiträge wesentlich breiter gefächert. Offenbar schlug sich hier nieder, dass der Anteil der Theologen im Wingolf nun deutlich geringer geworden war, während die Zahl der Juristen, Mediziner, Philologen usw. angestiegen war. Zudem gab es seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auch Technische Hochschulen und Handelshochschulen, an denen sich Wingolfsverbindungen gründeten. Nach einigem Hin und Her war man bereit gewesen, auch die Studenten dieser Hochschulen als Wingolfiten zu akzeptieren, wenn man auch vielerorts zunächst fein säuberlich in einen „Universitätswingolf“ und einen „Technischen Wingolf“ trennte, sodass in Städten wie Berlin, Breslau oder München erstmals mehrere Wingolfsverbindungen nebeneinanderher existierten. Wie auch immer: Der Mitgliederbestand des Wingolfs und damit auch die Leserschaft der Wingolfsblätter war deutlich vielfältiger geworden. Angesichts dieser Veränderung sowie der Tatsache, dass sich eine „Freistudentenschaft“, die sogenannten „Finken“ herausgebildet hatte, die die Mitgliedschaft in einer Verbindung grundsätzlich nicht mehr als unbedingt erstrebenswert erachtete, fand auch im Wingolf ein Wandel statt: Erstmals gab es neben korporativen und religiösen Veranstaltungen auch Vorträge und sogenannte „wissenschaftliche Unterhaltungsabende“ in den Semesterprogrammen. Das schlug sich auch in den Wingolfsblättern nieder. Wolfhard Weber (M 59) schreibt dazu in der 1998 von Manfred Wieltsch (M 62) herausgegebenen „Geschichte des Wingolfs“: „Schließlich öffnete der Bund 1912 die Wingolfsblätter der allgemeinen offenen Diskussion über studentische Fragen insgesamt“ (S. 139). Weber weist an dieser Stelle auch ausdrücklich darauf hin, dass es bereits zuvor Beiträge in den Wingolfsblättern gegeben habe, die man in der Zeitschrift eines Korporationsverbandes jener Zeit nicht unbedingt habe erwarten können – so etwa einen, wenn auch nicht vorurteilsfreien Beitrag mit dem Titel „Die Sozialdemokratie und die deutsche Studentenschaft“ (Wbl. 1894, Nr. 14, S. 97ff.).

Noch etwas anderes hat sich ebenfalls verändert: In den Wingolfsblättern jener Zeit finden sich viele Inserate unterschiedlichster Natur: Familienanzeigen und Ankündigungen wingolfitischer Veranstaltungen standen selbstverständlich bereits vorher im Blatt, doch jetzt sind diese Anzeigen durch grafische Elemente wie Pfeile oder Rahmen aufbereitet. Hinzukommen aber auch Stellenangebote und Stellengesuche. Wingolfiten suchen Geschäftsbeziehungen und dienen sich der Leserschaft als Rechtsanwalt, Kurarzt oder Buchhändler an. Pfarrer bieten eine Sommerfrische in ihrem „idyllisch gelegenen Pfarrhaus“ an, Apotheker empfehlen ihre „photographischen Apparate und alle zugehörigen Bedarfsartikel“ – und so weiter und sofort. Kurz: Die Wingolfsblätter sind modern geworden.

Die „Witzblätter“

Dass dennoch nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen war, erkennt man unter anderem daran, dass 1911 ein (vergeblicher) Versuch unternommen wurde, zusätzlich zu den Wingolfsblättern eine „literarisch-politische Vierteljahresschrift“ des Wingolfs zu gründen. Offenbar waren einigen Philistern die Wingolfsblätter nicht ernsthaft und intellektuell genug. Nun, die ambitionierte Vierteljahresschrift hat es, wie gesagt nicht gegeben. Dafür erschien jedoch am 6. Juni 1911 ein ganz anderes wingolfitisches Druckwerk, das hier unbedingt erwähnt werden muss: Die „Witzblätter – Zeitschrift zum Wartburgfest, gegründet und redigiert von erstklassigen Kräften“. Hier wird die geplante „Vierteljahresschrift“ ordentlich auf die Schippe genommen. Der angebliche Vorort Würzburg (wo es 1911 noch längst keinen Wingolf gab) hat in seinem Festprogramm zum Wartburgfest als Höhepunkt ein „Ständchenbringen der Bundes-Confuxia vor Eisenacher Mädchenpensionaten“ eingeplant. Und zum Abschluss gibt es noch einen genial erfundenen Ausblick auf das Jahr 1920: Vorort ist dann der Dortmunder Wingolf (wahrscheinlich konnte man sich 1911 nicht vorstellen, dass in Dortmund jemals eine Universität, geschweige denn ein Wingolf existieren könnte). Die Anschaffung von schwarz-weiß-gold angestrichenen Luftschiffen wird für alle Wingolfsverbindungen verpflichtend gemacht. Wer sich solche Perlen einmal intensiver zu Gemüte führen will: Bbr. Felix Plapper (Ef 22, Hg 22) hat diese dankenswerterweise auf der Wingolfsplattform allen Interessierten zugänglich gemacht.

Eine blutige Zeit

Das Jahr 1911, in dem die „Witzblätter“ erscheinen, ist in den „eigentlichen“ Wingolfsblättern aber auch ein Jahr ernsthafter Diskussionen. Bereits seit längerer Zeit diskutierte Themen sind unter anderem die Alkohol- und Stofffreiheit sowie der Beitritt des Wingolfsbundes zur 1902 gegründeten „Anti-Duell-Liga“. Während diese sich gegen potenziell tödliche Duelle richtete, galt die studentische Mensur als gesellschaftlich vertretbar, wurde aber vom Wingolf für seine Mitglieder aus religiös-ethischen Gründen entschieden abgelehnt. Vonseiten der tonangebenden schlagenden Verbindungen standen die nichtschlagenden konfessionellen Verbindungen im Geruch der Feigheit. Dass sie dieses Vorurteil überwinden konnten, war, so makaber das klingen mag, ein Nebeneffekt des Ersten Weltkrieges, aus dem viele Wingolfiten nicht lebend zurückkommen sollten.

In den Wingolfsblättern – von 1913 bis 1919 unter der Schriftleitung Friedrich Ulmers (Mch Sft 1896, E 1897 et al.) – wurde der Kriegsbeginn wie fast im gesamten deutschen Bürgertum euphorisch gefeiert. „Der Sturm bricht los!“ steht in großen Lettern (deutlich größer als sonst in den Wingolfsblättern üblich) über dem Artikel von Carl Kinzel (Be 68). Und dann folgt ؘ– um der Bedeutung des Ereignisses Rechnung zu tragen – in ungewohntem Schriftbild (nämlich einspaltig und in größerem Schriftgrad als sonst) ein Text, der an den kriegerischen Erfolg von 1870/71 erinnert und schließlich mit dem folgenden Appell an die jungen Bundesbrüder, die in den Krieg ziehen, endet: „Reißt das Feuer vom Himmel herunter, laßt eure Seele durchglühen vom lebendigen Gott und tragt die heilige Flamme überall dahin, wo ihr steht. Zeigt im schweren Dienst, im Leiden und im Kampf und am Lager der Verwundeten, daß ihr Licht der Welt und Salz der Erde seid. So werdet ihr euch als echte Wingolfiten beweisen. So zieht hinaus mit eurem Gott fürs Vaterland. Unser Segen geleitet euch. Seid stark in dem Bewußtsein, daß Gott mit der gerechten Sache ist und, daß sich daheim betende Hände für euch erheben.“

Die Vereinnahmung Gottes für die eigene Seite und die unbedingte Kriegsbegeisterung, die aus diesen Worten klingt, lässt aus heutiger Sicht gruseln, trotz (oder gerade weil) mit dem russischen Überfall auf die Ukraine, die Gefahr eines größeren Krieges in Europa derzeit so groß ist, wie seit vielen Jahrzehnten nicht.

In seinem in Heft 2/2014 der Wingolfsblätter (S. 74–82) erschienenen Artikel „Der Wingolf im Ersten Weltkrieg“ betont Manfred Wieltsch (M 62) mit Blick auf das christliche Tötungsverbot und die im Wingolf von Anfang an geübte strikte Ablehnung von Duell und Mensur: „Es ist schon erstaunlich, dass im christlichen Wingolf eine solche Kriegsbegeisterung zu verzeichnen war.“ Zur Erklärung verweist er auf die damalige Gleichsetzung von Landesherr und Kirchenherr in der evangelischen Kirche sowie darauf, dass die meisten Wingolfiten – ebenso wie große Teile der Bevölkerung der Überzeugung waren, der Krieg sei ihnen aufgezwungen worden und man führe einen Verteidigungskrieg. Dies ist auch die Grundhaltung, die in dieser Zeit in den Wingolfsblättern vertreten wird.

Bereits wenige Wochen nach Kriegsbeginn hatten die Wingolfsblätter eine neue Rubrik mit dem Titel „Vom Kriege“. Aktuelle Nachrichten, Erlebnisberichte von Wingolfiten und literarische Texte über den Krieg waren hier versammelt. Und auch die ersten Gefallenen- und Verwundetenlisten erschienen in den Wingolfsblättern, bald schon ergänzt durch viele Seiten schwarz umrandeter Todesanzeigen für die Gefallenen.

„Es ist auffallend, wie bald in den Artikeln der Wingolfsblätter die anfängliche Stimmung der Kriegsbegeisterung in Erschütterung und Trauer umschlug“

merkt Manfred Wieltsch in seinem oben zitierten Artikel an.

Der Schock der Kapitulation

1914, am Vorabend des Ersten Weltkrieges, hatte sich in den Wingolfsblättern kaum ein Hinweis darauf finden lassen, dass die Welt auf einen Krieg zuging. Und auch 1918 war die drohende Kapitulation den Wingolfsblättern nicht zu entnehmen. „Das Gesuch um Waffenstillstand an die USA, der Rücktritt Ludendorffs, der Übergang zum parlamentarischen Regierungssystem werden nicht erwähnt“, stellt Hans Martin Triebel (E Nstft 47, G 48, Hv Nstft 52) in der Geschichte des Wingolfs verwundert fest (S. 160).

Rechnete man nicht mit einem solchen Ende? War man wirklich überrascht? Oder hätte man es als Defätismus angesehen, an ein solches Ende auch nur zu denken? Das wird sich wohl nur schwer klären lassen. Fakt ist jedoch, dass am 12. November 1918, also am Tag nach dem Waffenstillstand von Compiègne auf der ersten Seite der Wingolfsblätter ein Artikel von Schriftleiter Friedrich Ulmer erschien, in dem es hieß (zit. nach „Geschichte des Wingolfs, S. 160): „Was wird sein, wenn diese Zeilen (…) gelesen werden? Wer empfinden kann, der empfindet eine einzige unabsehbare Not, hinter der alles andere zurücktritt.“ Ulmer betont das Recht der Unterlegenen, ihre Niederlage und ihre Verluste zu betrauern. Er plädiert dafür, jetzt nicht nach Schuldigen zu fragen, sondern sich der ganz konkret vorhandenen Not zu stellen. Und in einer seltsamen Mischung aus Hoffnungslosigkeit und Gottvertrauen fährt er fort: „Wer will mehr sagen? Vom morgigen Tag? Wer weiß von Übermorgen? (…) Also auch ihr (…) seid in Gottes Hand.“

Die Entwicklung der Wingolfsblätter ab 1919 ist Thema in Heft 4/2023.