Geschichte

Harald Braun – bedeutender Regisseur

Harald Braun – bedeutender Regisseur

Die Geschichte des deutschen Filmschaffens wäre unvollständig, wenn man neben bedeutenden Regisseuren der Fünfziger- und Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts wie Helmut Käutner und Wolfgang Staudte den Namen Harald Braun (Be 19, Fr 20) unterschlagen würde.

Ihm gelang es ebenso wie diesen Kollegen, Filme zu drehen, die in jenen Jahren künstlerisches und ethisches Niveau mit dem Kassenerfolg verbanden. Es lohnt sich für uns, seiner hier zu gedenken: Harald Braun war nämlich Wingolfit! Er wurde am 26. April 1901 als Pfarrerssohn in Berlin geboren und wuchs auch dort auf. Als Wingolfit erscheint er erstmals in dem großen Nachkriegsvademecum von 1925 – schon als Dr. phil. und wiederum mit dem Wohnsitz Berlin.

Der Beitrag stammt von P. Riegelmeyer (Mst 54, E 55, H 02) und erschien ursprünglich in den Wingolfsblättern, der Zeitschrift des Wingolfsbundes.

Der Literaturkritiker

1924, fast noch als Student, wurde er Schriftleiter der Literaturzeitschrift „Eckart“. Er hatte selbst über Liliencron promoviert. Jetzt aber ging es um Werfel und Wiechert, um Benn und Döblin, um Thiess und Jünger, um Barlach und Wassermann. Gegen Ende von Brauns Arbeit am „Eckart“ trat auch Rudolf Alexander Schröder in diesen Kreis ein. Schließlich wagte Braun eine Zusammenfassung des bisher Geleisteten, der er den Titel „Dichterglaube“ gab. Das Buch fand starke Beachtung.

1932 wechselte Harald Braun ins Funkhaus an der Masurenallee. Dort übernahm er die literarische Abteilung und betätigte sich auch als Hörspielregisseur. Aus den ersten Monaten dieser Tätigkeit rührt seine Bekanntschaft mit dem Dichter Jochen Klepper her, die in dessen Tagebuchaufzeichnungen ihre Spuren hinterlassen hat.

Drehbücher und erste Regiearbeiten

Am 1. Oktober 1933 wurde Harald Braun beim Berliner Sender gekündigt. Aber er fiel sozusagen die Treppe hinauf. Obwohl er alles andere als ein Parteigänger der Nationalsozialisten war, gelang es ihm, in die Filmbranche einzusteigen. So etwas war damals noch möglich. Er betätigte sich zunächst als Drehbuchautor: Die Bücher zu den Filmen „Das Herz der Königin“ von 1940 (Zarah Leander als Maria Stuart!) und „Der Weg ins Freie“(1941, ebenfalls mit Zarah Leander) stammen von ihm Brauns erste Regiearbeit wurde der nach dem bekannten Roman von Otto Ludwig (1856) gedrehte Spielfilm „Zwischen Himmel und Erde“. Für die Außenaufnahmen zu diesem im Dachdeckermilieu spielenden Film ging Harald Braun in das damals – 1942 – noch unzerstörte Niederrheinstädtchen Xanten. Die Stadt bekam für sein Leben und Sterben schicksalhafte Bedeutung.

Durch seinen Erstling machte der Regisseur Harald Braun immerhin so auf sich aufmerksam, dass er bis Kriegsende noch ambitionierte Filme wie „Träumerei“ (1943, über das Leben Robert Schumanns, mit Mathias Wieman und Hilde Krahl) und „Nora“ (1945, nach Ibsens Drama) drehen konnte.

„Die Nachtwache“

Nach 1945 rückte Harald Braun erstaunlich schnell in die erste Reihe der deutschen Filmregisseure vor. Er avancierte 1947 zum Leiter der „Neuen Deutschen Filmgesellschaft“. 1949 kam der große Durchbruch mit dem Film „Nachtwache“, an den sich die älteren unter uns noch erinnern mögen. Harald Braun wagte es hier, in den Mittelpunkt der Filmhandlung zwei Geistliche zu stellen, einen evangelischen und einen katholischen, die in ökumenischer Eintracht zusammenarbeiten. So etwas hatte es im deutschen Film überhaupt noch nicht gegeben. Braun war durch seine Herkunft bis ins kleinste Detail mit dem christlich-kirchlichen Milieu vertraut.

Er arbeitete auch in diesem Film – ebenso wie in seinen späteren – mit der ersten Garnitur der deutschen Schauspielerei zusammen. Ihm standen bewährte, erfolgversprechende Kämpen aus Ufa-Zeiten zur Seite: René Deltgen, Luise Ulrich, Hans Nielsen – Letzterem gelang damit der Sprung ins Charakterfach. In der Rolle des Kaplans Imhoff trat ein Schauspieler erstmals vor das deutsche Kinopublikum, der damit schlagartig zum Filmstar der Nachkriegszeit wurde und bis zu seinem Tode auf der Leinwand wie auf dem Bildschirm in großer künstlerischer Wandlungsfähigkeit brillierte: Dieter Borsche. Er war zu dieser Zeit trotz seines jugendlichen Aussehens schon 40 Jahre alt und hatte einige Jahre Theater in der Provinz sowie die Kriegsteilnahme bereits hinter sich. Seiner Ausstrahlung als edler Charakter verdankte er dann noch eine Reihe weiterer Priester- und ärzterollen. Später konnte Borsche zeigen, dass auch ganz andere Charakterzüge in den von ihm verkörperten Gestalten steckten.

Harald Braun hat die in der „Nachtwache“ begonnene Linie nicht fortgesetzt. Es blieb einer der merkwürdigsten und isoliertesten Erfolge der Filmgeschichte. Binnen 18 Monaten sahen ihn sieben Millionen Menschen; er heimste eine Fülle von Auszeichnungen ein – vom Prädikat „Künstlerisch wertvoll“ bis hin zu zwei „Bambis“.

Brauns weiteres Schaffen

In den nächsten Jahren drehte Harald Braun in rascher Folge einen Film nach dem anderen. Er war in seinem Metier ein gefragter Mann. Ich erinnere mich, dass ich 1951 beim Berliner Kirchentag seinen Film „Der fallende Stern“ sah. Er gab neuerlich Dieter Borsche die Chance, seine Karriere als Lichtgestalt des deutschen Films auszubauen; außerdem aber ermöglichte er dem großen Mimen Werner Krauß, der durch seine Mitwirkung in dem Film „Jud Süß“ in der Film- und Theaterlandschaft der Nachkriegszeit völlig verfemt war, ein Comeback. Krauß durfte noch einmal – acht Jahre vor seinem Tode – vor einem breiten Publikum die schillernde Skala seiner reichen darstellerischen Möglichkeiten entfalten. 1952 drehte Harald Braun „Herz der Welt“, wieder mit Borsche, Wieman und Hilde Krahl, einen Film von ebenso hohem künstlerischen wie ethischen Anspruch über das Leben der österreichischen Pazifistin Bertha von Suttner.

Im Jahr darauf legte er den Spielfilm „Solange du da bist“ vor. Dieser Film markierte eine Wende in der öffentlichen Aufnahme von Brauns Schaffen. Er hatte, mit Maria Schell und Hardy Krüger, mit O. W. Fischer und Brigitte Horney ganz nach Publikumsgeschmack besetzt, die Geschichte der inneren Läuterung eines Traumfabrik-Regisseurs zum Thema, war also zum Teil ein Film über den Film. Erstmals wurden, neben reichlichem Beifall, auch Stimmen der Enttäuschung vernehmbar. Sie bemängelten eine gewisse Feierlichkeit, eine übersteigerte Neigung zu Symbolik und Allegorie.

Einen regelrechten Verriss erlebte Harald Braun schließlich mit seinem Film „Der letzte Sommer“ (1954) Auch wenn ihn die Evangelische Filmgilde zum „besten Film des Monats“ erklärte, schien er den meisten Kritikern ein Beweis für die These, dass sich hinter dem Regisseur, den einer seiner Bewunderer den „Humanisten und Moralisten unter den deutschen Filmschöpfern“ genannt hatte, ein verkappter Reaktionär, ein gefährlicher Apologet des Bestehenden verberge. Friedrich Luft, der Berliner Kritikerpapst, verstieg sich sogar zu dem Wunsch, es möge eine kleine Bombe platzen, damit das gefällige Edelmenschentum, wie es Brauns Filme beherrsche, zumindest einen Schock bekomme: „Was ist mit Harald Braun, dass er den Mut zur eigenen Courage am Ende doch auf triste Weise fehlen lässt?“

Trotzdem drehte Harald Braun in den fünfziger Jahren weiterhin Film um Film, darunter so ambitionierte wie „Königliche Hoheit“ nach dem Roman von Thomas Mann, wiederum mit Dieter Borsche und der inzwischen zum Publikumsliebling avancierten Ruth Leuwerik. Der „Zauberer“ äußerte seine Zufriedenheit über das Ergebnis. Bedauerlicherweise hat man ganz selten einmal die Chance, einen dieser Filme wiederzusehen.

Unverwirklichte Pläne

Fast interessanter als diese fertiggestellten Filme sind die Filmpläne, die Harald Braun aus den verschiedensten Gründen nicht verwirklichen konnte. So wollte er unter dem Titel „Die Zeit ist kurz“ das Leben Friedrichs von Bodelschwingh verfilmen. Dass dieses Projekt nicht zustandekam, lag offenbar nicht nur an wirtschaftlichen Schwierigkeiten.

Die Biografen reden recht sibyllinisch von innerkirchlichen Querelen und davon, dass es Braun trotz vieler Drehbuchentwürfe nicht gelang, seine Sicht von diesem großen Kirchenmann mit der in Bethel gehüteten Tradition zur Übereinstimmung zu bringen. Wie auch immer – was hätte das für ein Film werden können, besonders wenn es auch noch gelungen wäre, die Rolle Bodelschwinghs mit einer angemessenen Schauspielerpersönlichkeit zu besetzen!

Schmerzlich war es für Harald Braun auch, dass er das schon weit vorangetriebene Projekt einer Verfilmung der „Buddenbrooks“ in andere Hände legen musste. Er wollte gerade zu den Dreharbeiten abreisen – da warf ihn ein erster Herzinfarkt auf ein langes Krankenlager. 1960 dann trat er wieder ganz gesund und unbeschwert noch einmal in ein Berliner Atelier, um für die Länge eines Spielfilms seine Arbeit in gewohnter Weise zu tun. Danach machte er sich auf den Weg, um Motive für das Fernsehspiel „Die Hochzeit der Feinde“ (nach der Novelle von Stefan Andres) zu sammeln.

Die erste Arbeit für das neue Medium sollte die erwünschte Bewährungsprobe nach dem Verblassen seines Ruhms als Filmregisseur werden. Die Schauplätze für die Außenaufnahmen suchte er in seiner Lieblingslandschaft am Niederrhein. In Xanten, der Stadt, wo sein erster Film spielte, wo er auch immer wieder einmal aufgeführt wird, wo sich ältere Bürgerinnen und Bürger noch lange an ihr Mitwirken als Statisten und an das unzerstörte Vorkriegsgesicht ihrer Stadt erinnerten – in Xanten in einem Hotelzimmer holte ihn am 24. September 1960 der Tod ab. Begraben liegt er in München.

Harald Brauns Filme – darin sind sich die Biographen einig – sind auch Ausdruck dessen, was er selbst als Christ glaubte und fühlte. Insofern steckt in ihren Bildern und Worten auch ein Stück Verkündigung! Er gehörte der Kunst, er gehörte seinem Publikum, er gehörte der Welt. Aber wir Wingolfiten dürfen sagen: Er war auch Geist von unserem Geiste.

Bild: Harald Braun (Be 19, Fr 20) auf einem Pressefoto aus dem Jahr 1949.
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Rede zum Totengedenken am Wingolfsdenkmal

Rede zum Totengedenken am Wingolfsdenkmal

Zu jedem Wartburgfest gedenkt der Wingolf am Wingolfsdenkmal in Eisenach seinen Toten der Kriege der Vergangenheit, heute auch allen Opfern von Verfolgung und Kriegen. Das Gedenken am Wingolfsdenkmal umschließt auch Todesfälle aus dem Wingolfsbund und dem Verband Alter Wingolfiten (VAW) aus unserer Zeit. Anlässlich des Totengedenkens sprechen der Sprecher des Wingolfsbundes und der Vorsitzende des VAW. Wir dokumentieren hier die Rede von Alexander Braun (Bundessprecher 2017-2019).


Werte Damen,
liebe Gäste,
liebe Farbengeschwister, Philister und Bundesbrüder,

der Wingolf erinnert hier am Wingolfsdenkmal zu seinen Wartburgfesten seiner Toten in den Kriegen der deutschen Vergangenheit. Mithin allen Opfern von Kriegen. Für manche ist Krieg nur die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln, wir Wingolfiten wissen: Krieg ist immer eine Niederlage. Die Toten mahnen uns.

Dass wir auch heute hier innehalten und der Toten gedenken, ist nicht selbstverständlich. In der Hast und Oberflächlichkeit unserer Zeit geht das Nachdenken über die Vergangenheit leicht unter. Das Jahr 2019 ist besonders geprägt durch Jahrestage, die uns auf unsere Geschichte verweisen. Auf zwei von ihnen möchte ich hier kurz eingehen, weil sie unser Andenken einordnen können. Ja, ohne die Erinnerung an diese historischen Ereignisse geriete das Gedenken an die Toten des Wingolf zu einer leeren Übung oder zu einer selbstverliebten Nabelschau.

Vor 100 Jahren versammelten sich die Abgeordneten der Nationalversammlung in Weimar, also in unmittelbarer Nähe zu Eisenach, unserer Bundesstadt, in der wir dieser Tage erneut zusammenkommen. Das Zusammentreten dieser verfassungsgebenden Versammlung war eine Folge der erfolgreichen Revolution des deutschen Volkes. Eine Revolution, die viele Gegner hatte. Auch aus den Reihen des Wingolf standen viele Brüder der jungen Demokratie feindselig gegenüber.

Aus dem Ersten Weltkrieg ging der Wingolf geschwächt hervor. Viele Brüder hatten an der Front ihr Leben gelassen oder waren durch das Miterleben des Krieges für alle Zeiten an Körper und Seele verwundet. Doch führte das Trauma des Weltkrieges nicht – oder gerade nicht? – dazu, dass auch die Wingolfiten jener Tage dem Götzen des Nationalismus abschworen, der Europa in den Krieg gestürzt hatte.

Schon bald erhob sich – besonders unter den Studenten, auch den Wingolfiten – ein neuer, militanter Nationalstolz, der die Abwertung anderen Nationen und – nur etwas später – sogenannter „Rassen“ gebrauchte, um das Selbstwertgefühl einer neuen Generation zu stärken. Doch überwand der Stolz auf die Nation und auf das Deutschtum gerade nicht die Traumata des Krieges, auch nicht die empfundene Demütigung durch den Vertrag von Versailles. Nein, Chauvinismus und Hass kennen keine Befriedigung, sie nähren sich immer weiter.

Vor 80 Jahren wurde hier in Eisenach das „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ von elf evangelischen Kirchen gegründet. Erst seit ein paar Wochen erinnert ein weiteres Mahnmal hier in unserer Bundesstadt an dieses historische Datum.

Das Institut hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das Christentum von allem Jüdischen zu reinigen. Ein Vorhaben, das nur misslingen konnte. Unser christlicher Glaube gründet in der Geschichte Gottes mit seinem Volk, mit dem Volk Israel, dass er durch alle Zeiten und bis heute erwählt hat. Die bleibende Erwählung Israels durch Gott wurde von den Nazi-Theologen bestritten. Sie interpretierten die Bibel um, bis Jesus und Paulus als „Arier“ galten. Sie strichen Lieder aus dem Gesangbuch, die wie das gerade eben gehörte „Tochter Zion“ an die jüdische Geschichte des christlichen Glaubens erinnern.

Die zum großen Teil jungen Theologen des „Entjudungsinstituts“ gingen begeistert und eifrig ans Werk. In ihrer Verblendung waren sie sich sicher, mit ihrer Arbeit dem wahren Christentum zu dienen, das ein „deutsches Christentum“ sein müsse. Im Deutschtum verwirkliche sich erst, was Jesus im Neuen Testament predige. Damit bereiteten die Theologen des Instituts die Vernichtung der Europäischen Juden ideologisch vor. Sie erschien selbst „guten Christenmenschen“ als absolut folgerichtig.

Die Christen und Theologen, darunter viele Wingolfiten, sind in dieser Zeit schuldig geworden. Sie haben den christlichen Glauben auf dem Altar des Nationalismus und Antisemitismus geopfert. Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden die Kirchen nur zögerlich zu einem Eingeständnis ihrer Schuld. Und wer von uns traut sich heute mit Gewissheit einschätzen zu können, was in den Köpfen der vielen jungen und alten Wingolfiten vorging, die 1945 den Zweiten Weltkrieg im Rücken auf die Reste der einstmals stolzen Tradition des Wingolf schauten?

Trotz vieler Kontinuitäten deutscher studentischer Kultur, haben die Studentenverbindungen und der Wingolf nach dem Zweiten Weltkrieg einen Platz im neuen demokratischen Deutschland gefunden. Sie haben die Fehler der Weimarer Zeit nicht wiederholt, auch wenn es bis heute Studentenverbindungen gibt, die ihre Rolle in der deutschen Demokratiegeschichte mit Füßen treten, indem sie nationalistisches und rassistisches Gedankengut fördern. Auch davon weiß diese Stadt zu erzählen.

Der Wingolf ist nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Ort lebendigen staatsbürgerlichen Denkens und Handelns geworden. Das ist nicht selbstverständlich. Wir gedenken hier am Wingolfsdenkmal ja vor allem jungen Männern, die in Kriegen kämpften und starben, in die sie mal mehr, mal weniger begeistert und überzeugt zogen oder hineingezogen wurden. Welches Glück haben wir seit nunmehr fast 75 Jahren, dass Deutschland mit seinen Nachbarn Frieden hält?

Lasst uns daran denken, dass Nationalismus und Rassenhass am Ende in Schützengräben führen, erst mentale, dann reale. Schützengräben, wie sie es in unserer Vergangenheit reichlich gab. Schützengräben, die auch heute wieder ausgehoben werden. Konkret hier in Thüringen und in Deutschland, in Europa, ja, leider auf der ganzen Welt. Schützengräben, von denen wir hoffen, dass es uns gelingt, sie zuzuschütten. Dazu mahnen uns die Toten, auch die des Wingolf.

Ich möchte enden mit Worten von Richard von Weizsäcker, die er in seiner Rede zum 8. Mai 1985 gebraucht hat. Das ist jetzt fast 35 Jahre her, unsere jungen Wingolfsbrüder kennen sie vielleicht aus dem Geschichtsunterricht. Er rief dazu auf, der Wahrheit so gut es geht ins Auge zu schauen. Das bleibt Auftrag auch für uns Wingolfiten.

„Wir haben als Menschen gelernt, wir bleiben als Menschen gefährdet. Aber wir haben die Kraft, Gefährdungen immer von neuem zu überwinden. Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feindschaften und Hass zu schüren.
Die Bitte an die jungen Menschen lautet:
Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass
gegen andere Menschen,
gegen Russen oder Amerikaner,
gegen Juden oder Türken,
gegen Alternative oder Konservative,
gegen Schwarz oder Weiß.
Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander.“


Weitere Informationen zur Geschichte des Eisenacher sog. “Entjudungsinstituts” finden Sie in diesem Beitrag.

Alle Ansprachen des Vororts zum 77. Wartburgfest sind unter dem Titel “Es gilt das gesprochene Wort” als PDF-Dokument und gebundene Druckfassung erhältlich: Weitere Informationen.

(Bild: Foto Hartmann-Lotz im Auftrag des Wingolfs)

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Von Weimar bis heute – Grußwort zum Wartburgfest 2019

Von Weimar bis heute – Grußwort zum Wartburgfest 2019

Der Verfassung der ersten deutschen Republik entstand fern von der Reichshauptstadt, denn als die Volksvertreter sich nach der Januarwahl zum ersten Mal versammelten, wählten sie Weimar als Tagungsort. Von den Denkmälern der deutschen Klassiker in der thüringischen Kleinstadt strahlte der Geist der Vernunft, während über den Strassen Berlins noch der Blutgeruch der Kämpfe zwischen dem kommunistischen Spartakus und regierungstreuen Truppen lag. Kein Abgeordneter wollte in die Gefechte der verfeindeten Gruppen geraten und als Geisel genommen werden. Also: Ab nach Weimar!

Ein Land in schwieriger Verfassung

Doch auch als die Verfassung verabschiedet war, kehrte kein Friede ein. Zu stark waren die sozialen Verwerfungen, die der Krieg angerichtet hatte. Zu laut die Hetzparolen der Kaisertreuen, die die Spitzen der neuen Republik verächtlich machten und die Morde an demokratischen Politkern wie Matthias Erzberger und Walther Rathenau beklatschten. Zu unversöhnlich die kommunistische Linke, die auf Befehl aus Moskau eher die Nazis an die Macht kommen liess, statt die Zusammenarbeit mit den demokratischen Parteien zu suchen.

Diese Unwucht in der Gesellschaft konnte die beste Verfassung nicht heilen. Dazu kamen ökonomische Krisen wie Inflation und Weltwirtschaftskrise, die tief in das Mark nicht nur des Proletariats, sondern auch des Bürgertums einschnitten. Hunger, sozialer Abstieg und die Erfahrung, nicht mehr dazuzugehören, entfremden die Bürger von jedweder Obrigkeit, auch von der demokratisch legitimierten. So war es nicht die Verfassung von Weimar, die die Republik letztlich scheitern liess, es waren Umstände, die jenseits der Verfassungsartikel lagen und für die die Väter und Mütter dieser ersten deutschen Verfassung mangels prophetischer Gabe kein Antidot einbauen konnten.

Die Zerrissenheit der Gesellschaft, die bei so grundstürzenden Veränderungen wie Krieg und Wechsel der Staatsform kaum zu vermeiden ist, spiegelte sich in der Parteienlandschaft wider. Im rechten, im linken und im liberalen Lager vervielfältigten sich die Parteien und mangels einer Fünf-Prozent-Hürde für den Einzug in den Reichstag und die Länderparlamente wurde die Regierungsbildung schwierig. Je mehr Parteien und Parteiflügel in den Kabinetten vertreten waren, um so mehr blockierte interner Streit eine konsistente Regierungsarbeit.

Tragisches Beispiel mit weitreichenden historischen Folgen ist 1930 der Sturz der Regierung Hermann Müller (SPD). Seine fragile Vierparteien-Koalition hatte sich nach langen Mühen auf eine Reform der Finanzierung der Arbeitslosenversicherung verständigt. Doch der linke SPD-Flügel liess die Verständigung platzen.

Damit brach die Koalition der Demokraten, und es begann die Herrschaft der Notverordnungen des reaktionären Reichspräsidenten Hindenburg. Das Land schlitterte in einen Abgrund. Es folgte die Machtübernahme der Nationalsozialisten. Bei der ständigen Suche nach Kompromissen, hatten die Parteien ihre klaren Alleinstellungsmerkmale und damit auch das Vertrauen ihrer jeweiligen Wählerschaft verloren. Das begünstigte den Aufstieg von Populisten, die den Unmut mit wohlfeilen Versprechungen aufsaugten, den Sturz des demokratischen Systems predigten und schliesslich vollendeten.

Lehren aus Weimar

Welche Lehren sich für heute aus dieser Weimarer Entwicklung ziehen lassen, ist nicht einfach zu sagen. Die Fünf-Prozent-Hürde ist hilfreich. Sie hat Parteien wie NPD oder Republikaner nicht gehindert, in die Parlamente einzuziehen, aber sie hat sie auch in ihrem Niedergang nicht künstlich durch Parlamentspräsenz am Leben erhalten. Sie hat die AfD nicht gestoppt. Aber mit zunehmender Stimmenzahl und entsprechender Beachtung von aussen wurde deutlich, dass die Partei von Machtkämpfen und inhaltlichen Konflikten zerfressen ist und mithin die Ansprüche, die sie an die anderen Parteien stellt, selbst nicht erfüllen kann.

Hoffnung kann nur daran liegen, dass die demokratischen Parteien jeweils zu einem Debattenstil finden, der nach aussen getragenen Streit vermeidet, und dass am Ende eine gemeinsame parteipolitische Positionierung steht. Denn Parteien, die im Dauerkonflikt mit ihren Flügeln stehen, sind miserable Verhandlungspartner. Sie zerlegen sich selbst und machen Koalitionen brüchig.

Die Mütter und Väter des Grundgesetzes von 1949 haben nach den unrühmlichen Erfahrungen mit der Machtfülle des Reichspräsidenten die Eingriffsmöglichkeiten des Staatsoberhauptes der Bundesrepublik in die Regierungs- und Parlamentsarbeit auf ein Minimum reduziert. Nur die Prüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmässigkeit und die Auflösung des Bundestages auf Bitten eines Kanzler, der selbst samt einem Nachfolgekandidaten keine Mehrheit im Parlament findet, sind ihm an Rechten geblieben.

Dass ein Präsident aufgrund seiner Autorität dennoch Einfluss nehmen kann, hat Frank-Walter Steinmeier bewiesen, als er nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen auf die SPD einwirkte, sich der Regierungsverantwortung nicht zu entziehen. Durch diesen Appell hat er zugleich unterstrichen, dass das Parlament sich in Krisensituationen nicht davon stehlen und in Neuwahlen flüchten kann, sondern seiner Macht entsprechend auch Entscheidungsstärke zu beweisen hat. Nur ein entscheidungsstarkes, selbstbewusstes Parlament kann die Achtung der Bürger gewinnen. Diese Einsicht hatten Weimarer Parteien noch nicht.

Die Rolle der Medien

Bleiben die Medien. Während die klassischen Medien – Presse, Radio, Fernsehen und ihre digitalen Portale – nach 1945 im Westen des Landes unter dem Einfluss englischer und amerikanischer Presseoffiziere den Weg zu einer regierungsunabhängigen objektiven Nachrichtengebung und argumentativen Kommentierung beschritten haben (ein Weg, auf dem die auf die Politik der SED verpflichteten Medien in der DDR nach dem Mauerfall folgten), breitet sich mit dem Aufkommen der Digitalisierung und der Möglichkeit für jedermann, seine persönlichen Meinungsäusserungen ohne Rücksicht auf die ethischen Kodizes der professionellen Medien zu publizieren, eine mit Vitriol getränkte Melange von Hate Speech und Verschwörungstheorien aus, die an die Situation der Weimarer Republik erinnert. Dort vergiftete eine Hetzpresse das Klima der Auseinandersetzungen und trug damit zur Spaltung der Gesellschaft bei.

Man kann viele Mutmassungen anstellen, wie es in der Bundesrepublik zu einer ähnlichen Situation kommen konnte. Aber eine Verfassungsfrage ist das nicht. Beide deutschen Verfassungen – von 1919 und 1949 – garantierten die Meinungsfreiheit, aber beide konnten und können nicht garantieren, dass die Meinungsfreiheit verantwortlich genutzt wird. Mediale Selbstverpflichtungen, Pressekodices und selbst Strafgesetze lassen sich nicht effektiv auf individuelle Meinungsäusserungen anwenden, die es an Reichweite mit den klassischen Medien leicht aufnehmen können.

Das Gesetz kapituliert vor der Flut individueller Gesetzesverstöße. Versuche, europäische Regelwerke für internationale Portale verbindlich zu machen samt der Verpflichtung, ihre Inhalte vor der Publikation auf Wahrheitsgehalt und Wahrung von Persönlichkeitsrechten zu überprüfen, sind bisher gescheitert. Bislang hat sich das ökonomische Interesse an möglichst viel traffic gegenüber ethischem Handeln behauptet.

“Das Netz ist nur ein Spiegel der Realität”

Eine Frage bleibt, warum in unserer vermeintlich gefestigten Demokratie das Vertrauen in die Unabhängigkeit der klassischen Medien in Frage gestellt und jede für den eigenen Horizont nicht passgerechte Information als Fake news bezeichnet wird. Offen bleibt auch, warum in der digitalen Welt Respektlosigkeit und Unflätigkeit gegenüber Politikern, Journalisten und jedermann üblich geworden ist. Das Netz ist nur ein Spiegel der Realität. Mangelnder Respekt gegenüber Politikern kann eine, aber auch nur eine Ursache in der Respektlosigkeit haben, mit der Politiker sich selber im öffentlichen Meinungsstreit begegnen. Misstrauen gegenüber den Medien mag entstanden sein, weil Journalisten ihre Relevanzkriterien für die Berichterstattung zu lange fern der Interessen und Bedürfnisse der Leser festlegten.

Die Kernursache für den rhetorischen und moralischen Vandalismus im Netz aber liegt in einer Gesellschaft, in der Regeln des Umgangs miteinander nicht mehr als Garantien, sondern als Einschränkungen individueller Freiheit verstanden werden. Und insoweit ist es dann doch eine Verfassungsfrage. In Artikel 3 Absatz 2 heisst es: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ Und nicht: „Die Freiheit des Bürgers besteht darin, andere jederzeit zu verletzen.“ Wie diesen Entwicklungen entgegengewirkt werden kann, ist ein dauerhaftes Debattenthema nicht nur für Schulen und Migranten-Unterweisungen – sondern für die ganze Gesellschaft und für die Gespäche auf Ihrem Wartburgfest.


Ernst Elitz ist renommierter Journalist und anerkannter Hochschullehrer. Als Gründungsintendant des Deutschlandradios bestimmte er bis 2009 die politische Debatte maßgeblich mit. Seit März 2017 ist er Ombudsmann bei der BILD. (Foto: Jens Oellermann für BILD)

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