Geschichte

Wie die Wingolfsverbindungen zu ihren Farben kamen (1/2)

Wie die Wingolfsverbindungen zu ihren Farben kamen (1/2)

Im Vergleich zu anderen Dachverbänden ist die Vielfalt bei den Farben der Wingolfsverbindungen mit zehn verschiedenen Kombinationen und Anordnungen immer noch sehr überschaubar. Dazu kommen allerdings noch Farbnuancen von kornblumenblau bis karmesinrot. Doch woher kommt diese Farbenvielfalt? Immerhin war der Wingolfsbund mit nur einer Farbkombination als gemeinsames Bundessymbol gestartet. Dies soll nun in diesem und einem weiteren Beitrag geklärt werden. Zunächst aber erstmal die Frage: Woher stammen die Bundesfarben selbst eigentlich?

Der Beitrag erschien im Original in Ausgabe 4/22 der Wingolfsblätter (S. 18–23). Autor ist Jan Deventer (Mst 18).

Die Entstehung der Bundesfarben

Seinen Ursprung haben die Bundesfarben beim Bonner Wingolf. Zunächst führte dieser die Farben Schwarz-Weiß in Wappen, Schärpen und Mützen. Das Schwarz-Weiß kann aus dem Bonner Stadtwappen, welches das schwarze Kurkölner Kreuz enthält, dem preußischen Landesfarben oder einer reinen Farbsymbolik (Schwarz für die Ernsthaftigkeit und Weiß für die sittliche Reinheit) entlehnt sein. Spätestens im WS1845/46 wurden die seitdem getragenen Farben Schwarz-Weiß-Gold angenommen, welche 1848 auch von Uttenruthia Erlangen und dem Berliner Wingolf übernommen wurde und zu den Farben des Wingolfs wurden.i

Zum Ursprung dieser Farbkombination sind im Laufe der Wingolfsgeschichte einige Theorien entstanden. Hermann Knodt (Gi99) sieht in ihnen die Kombination der Farben des Bonner Wingolfs (schwarz-weiß) und den der Uttenruthia Erlangen (schwarz-gold) und/oder einen Protest gegen das burschenschaftliche Schwarz-Rot-Gold.ii Die Erklärung, die sich durchgesetzt hat, stammt von Dr. Bernhard Dammermann (G12, Gd14) aus dem Jahr 1927. Dieser gab sich mit denen bis dahin verbreiteten Erklärungen nicht zufrieden und erklärte auch, dass Theorien wie der Ursprung als antiburschenschaftlicher Protest, ganz dem jeweiligen Zeitgeist, in dem Fall der 1890er, entspringen würden. Ein Vorwurf, der auch sehr gut auf seine Erklärung passt, denn sie ist eine sehr nationale, entstanden in einem sehr vaterländischen Zeitgeist: Laut Dammermann ist die Wingolfstrikolore eine Kombination der Farben Preußens und der Habsburger. Ernst Moritz Arndt habe sie dem Bonner Wingolf vorgeschlagen, denn er soll die Farben noch aus einem Vorschlag des Freiherrn vom Stein, der sie 1808 als gemeinsames Abzeichen für österreichische und preußische Verbände im Kampf gegen Napoleon vorschlug, gekannt haben. Der Vorschlag des Freiherrn war zwar nicht erfolgreich, aber Arndt soll, so spekuliert Dammermann, diesen zu Kenntnis genommen haben, als er 1812 dessen Privatsekretär war. Dammermann schreibt zwar selbst, dass seine Theorie nur auf Mutmaßungen ohne wirkliche Belege basiert,iii verdrängte sie die anderen Varianten. So findet sie sich seine Erklärung auch im Kleinen Lexikon des studentischen Brauchtums von Otto Böcher (Mz54, Hg56) wieder.iv

Woher stammt dann aber dann das Gold in den Farben, wenn Dammermanns und auch Knodts Erklärungen nur auf Vermutungen beruhen? Wahrscheinlich steht es schlicht für den christlichen Glauben. Schon beim ersten bekannten Bonner Wappen findet sich ein goldenes Kreuz. Und bei der Gründungsfeier des Hallenser Wingolfs wird diese Symbolik auch eindeutig ausgedrückt.v

Seit der Gründung des Wingolfsbundes 1844 sind 58 Verbindungen Mitglied gewesenvi, wovon jedoch 29, davon drei zeitweise, nicht die Bundesfarben wählten oder sie in einer anderen Reihenfolge anordneten. Dabei spielten ganz unterschiedliche Gründe eine Rolle.

Die frühen Abweichungen von den Bundesfarben beim Marburger Wingolf…

Bereits in den Anfängen des Wingolfs kommt es zur ersten Abweichung von den ab 1848 als Bundesfarben feststehenden Farben. Der Marburger Wingolf (MW) betonte zunächst gegenüber den anderen Wingolfsverbindungen seine Eigenständigkeit und nahm in Anlehnung an das Königreich Jerusalem, von dem auch das Jerusalemer Kreuz stammt, die Farben Gold-Weiß-Gold an. In dieser Zeit tauchen auch die späteren Farben Grün-Weiß-Gold das erste Mal auf. Dem Convent wurde ein Antrag vorgebracht die Verbindungsfarben in eben jene zu ändern, was allerdings abgelehnt wurde. 1851 spaltete sich die Progress-Burschenschaft Germania ab, die diese Farben schließlich wählten. Ob sie Idee dieses abgelehnten Antrags aufgriffen, ist nicht bekannt. Der MW nahm schließlich 1852 die Bundesfarben an, um die Einheit mit den anderen Wingolfsverbindungen im Gesamtwingolfvii zu zeigen. Als aber 1866 Preußen nach dem Deutschen Krieg das Kurfürstentum Hessen annektierte trat der MW als Protest aus dem Wingolfsbund aus. Bestrebungen seitens der Philisterschaft die Farben als Bekenntnis zu Hessen in Rot-Weiß-Gold zu ändern, wurde erst abgelehnt, aber ein halbes Jahr später Anfang 1867 angenommen. Getragen wurden die neuen Farben allerdings erst ein Jahr später und die Fahne wurde erst zum Stiftungsfest 1870 geändert. Im selben Jahr gründete sich der Altwingolf mit Bundesfarben, der vom WB als Nachfolger des MW von 1847 angesehen wurde. Das Verhältnis dieses roten und des schwarzen Wingolfs begann feindlich, aber 1875 konnten sich die beiden schließlich wiedervereinen. Bei dieser Vereinigung wurden die heute noch gültigen Farben Grün-Weiß-Gold als neutrale Farben gewählt. Zum Stiftungsfest 1875 wurde schließlich die Fahne, die Schärpen und die Schläger des roten Wingolfs zu grün umgefärbt. Wahrscheinlich wurden diese Farben infolge ihrer Symbolik gewählt (Grün für die Hoffnung).viii

…dem Heidelberger Wingolf und dem Leipziger Wingolf innerhalb der Landesgrenzen…

Während in Marburg ein wingolfsinterner Konflikt zu Abweichung von Bundesfarben führte, sind bei anderen Frühen Farbabweichungen Konflikte mit der Universität und/oder anderen Korporationen der Grund, so in Heidelberg und in Leipzig. In beiden Städten gründete sich zunächst je eine Verbindung unter den Namen Wingolf mit den Bundesfarben. Der Heidelberger Wingolf geriet jedoch rasch in Konflikt mit den örtlichen Corps, weshalb 1853 der Universitätssenat ihn verbot. Als Ersatz wurde 1856 die Arminia gegründet, die nicht Teil des Gesamtwingolfs wurde. Es wurden die Farben Dunkelblau-Weiß-Gold angenommen um den Bundesfarben möglichst nahe zu kommen. Diese Verbindung vertagte sich 1868. Bei der Reaktivierung 1881 konnte wieder der Name Wingolf angenommen werden, allerdings wurden die Arminenfarben auf Wunsch vieler Philister beibehalten.ix Der heutige Blauton wird auch als kornblumenblau bezeichnet.

Der Leipziger Wingolf (LW) dagegen erhielt 1855 erst keine Zulassung, denn die Universität vermutete burschenschaftliche Tendenzen und befürchtete Konflikte mit den örtlichen Corps. Als Ersatz wurde die Verbindung Wittenbergia gegründet ohne Verbindungen zum Gesamtwingolf. Zunächst mit den Farben Grün-Gold-Grün, ab dem SS1857 mit Grün-Weiß-Gold. Durch seine weiterhin bestehenden Kontakte zum Gesamtwingolf geriet die Verbindung weiterhin in Konflikt mit der Universität. 1858 vertagte sie sich schließlich.x Warum der LW diese Farben annahm ist nicht bekannt. Möglicherweise wollte er mit der Annahme der sächsischen Landesfarben dem Vorwurf der burschenschaftlichen Tendenzen entgegentreten. Bei seiner Wiedergründung 1865 konnte der LW wieder den Namen Wingolf samt Bundesfarben annehmen.

…sowie bei der Argentina Straßburg und der Arminia Dorpatensis außerhalb

1857 gründete sich noch eine weitere Wingolfsverbindungen, die nicht nur in Hinblick auf Farben besonders war: Argentina Straßburg. Noch in Frankreich gegründet, wählten die Argentinagründer in Anlehnung an das Stadtwappen Straßburgs, ein roter Schrägbalken auf silbernen Grund, die Farben Schwarz-Weiß-Rot. Sie wählten Weiß, da sie das Silber des Wappens zunächst für weiß hielten. Eine Unterscheidung, die es in der klassischen Heraldik nicht gibt, in der studentischen jedoch durchaus. 1860 wurde das erste Mal Couleur getragen, in Straßburg jedoch nur intern auf Kneipe, öffentlich nur in Deutschland oder der Schweiz. 1861 wurde das Weiß gegen Silber getauscht, wann genau der Rotton abgedunkelt wurde ist nicht bekannt. 1871 wurde Straßburg Teil des neugegründeten deutschen Kaiserreichs, dessen Farben Schwarz-Weiß-Rot waren. Um nicht für eine politische Verbindung gehalten zu werden, nahm Argentina 1872 die Bundesfarben an. 1881 und 1884 gab es nochmals Bestrebungen, die alten Farben wieder anzulegen. Dies scheiterte allerdings, denn 1880 hatte sich eine Burschenschaft mit eben jenen Farben in Straßburg gegründet.xi

Wie die Argentina gründete sich bereits 1850 eine Wingolfsverbindung außerhalb Deutschlands, nämlich die Arminia Dorpatensis als deutsch-baltische Verbindung im damals zum russischen Kaiserreich gehörenden Estland. Diese nahm die Farben Schwarz-Weiß-Altgold an. Weshalb das Gold der Bundesfarben zu Altgold geändert wurde, ist unklar. Oft wurde in Texten auch keine Unterscheidung zwischen Gold und Altgold gemacht.xii

Ursprüngliche Namens- und Farbvarianten u.a. in Kiel und München

Einige Wingolfsverbindungen wurden zwar mit dem Ziel Wingolf gegründet, jedoch trugen sie zunächst andere Namen und Farben. So in etwa gründete sich im Februar 1867 in Göttingen eine Arminia mit den Farben Schwarz-Silber-Rotxiii, 1896 eine Wittenbergia mit weiß-gold-rot in Münchenxiv und 1900 noch eine Wittenbergia mit den Farben schwarz-gold-blau in Stuttgart.xv All diese Verbindungen wurden innerhalb weniger Monate auch den Namen nach zu Wingolfsverbindungen und nahmen die Bundesfarben an. Anders verhielt es sich beim Kieler Wingolf. Hier wurde 1892 der Verein Wartburg gegründet mit dem Ziel eine Wingolfsverbindung zu werden. Da der Verein nicht die Bundesfarben annehmen durfte, nahm er die Farben Rot-Weiß-Gold an. Warum diese Farben gewählt wurden, ist nicht komplett gesichert. Eine alte Erklärung ist, dass dem Verein auf Initiative Bonns hin das alte Band des kurhessischen Marburger Wingolfs überreicht wurde.xvi Diese Erklärung wurde in neuere Zeit allerdings eher abgelehnt und auf eine Anlehnung an die Kieler Stadtfarben oder die Landesfarben Schleswig-Holsteins verwiesen.xvii Als allerdings der Verein 1895 zur Verbindung wurde, forderten Halle und Bonn nun, dass diese auch nun die Bundesfarben tragen sollen. Dies lehnte Kiel vehement ab und ein Farbenstreit entbrannte. xviii Einige Bundesbrüder waren der Meinung, dass ein Wingolfit nur schwarz-weiß-gold tragen dürfe und nichts anderes, obwohl in Heidelberg und Marburg bereits seit Jahrzehnten Bundesbrüder bereits andere Farben trugen. In diesem Farbenstreit konnte sich Kiel schließlich behaupten, sodass sie die Farben auch nach ihrer Aufnahme in den WB 1896 behalten durften.xix

Kiel und Marburg sind, bis heute, sehr stolz auf ihre Farben und sehen sie als Alleinstellungsmerkmal im Bund an, was dazu führte, die Annahme ihrer Farben durch andere Wingolfsverbindungen stets verhindern wollten.

Als sich 1903 der Münstersche Wingolf gründete, gab es erstmals bei einer Wingolfsverbindungsgründung ein Problem: Kurz vorher hatte sich eine katholische Verbindung gegründet, die die Farben schwarz-weiß-orange trug. Um Verwechselungen zu vermeiden, wurden die Farben Rot-Weiß-Gold in Anlehnung an die Stadtfarben Münsters Gold-Rot-Weiß gewählt. Der Kieler Wingolf protestierte jedoch gegen diese Entscheidung und ebenfalls kurz vorher hatte die örtliche ATV eben jene Farben gewählt. Daraufhin wurde ein dunklerer Rotton gewählt. Alle Parteien waren mit den neuen Farben Dunkelrot-Weiß-Gold einverstanden waren. Die Verbindung, die das Abweichen von den Bundesfarben vonnöten machte, vertagte sich bereits 1904 wieder für immer.xx

Voraussichtlich im März erscheint Teil II mit den Farbabweichungen in der Zwischenkriegszeit und der Nachkriegszeit bis heute.

Anmerkungen/Quellen

i# : Giesicke, Robert/Trautner, Martin [Hg.]: Aus den Anfängen des Wingolfs (1841-1849), Bonn 2016, S.14f.

ii# Wingolfsblätter 1919/20, S.12.

iii# Wingolfsblätter 1927, S.483ff. Siehe dazu auch: Giesicke, Robert/Trautner, Martin [Hg.]: Aus den Anfängen des Wingolfs (1841-1849), Bonn 2016, S.15f.

iv# Böcher, Otto: Kleines Lexikon des studentischen Brauchtums, Lahr 1985, S.46.

v# Giesicke, Robert/Trautner, Martin [Hg.]: Aus den Anfängen des Wingolfs (1841-1849), Bonn 2016, S.15.

vi# Inkl. Uttenruhtia Erlangen, Hohenstaufia Würzburg & Ottonia Magdeburg.

vii# Der Gesamtwingolf bestand von 1852 bis 1860 und wurde darauf zum Wingolfsbund. Siehe dazu: Wieltsch, Manfred: Die Anfänge und der Ausbau des Wingolfs 1830-1870, in: VAW [Hg.]: Geschichte des Wingolfs 1830-1994, Hannover 1998 ,S.78ff.

viii# Der Großteil der Informationen, vor allem die Details stammen aus persönlichen Nachfragen bei Phil Erhart Dettmering (M59) und Phil. Jürgen Schmidt (M65), die es den Protokollen des Marburger Wingolfs entnahmen. Ebenfalls dargestellt in: Heermann, Adolf: Geschichte des Marburger Wingolfs, Waitz, Hans [Hg.]: Geschichte der Wingolfsverbindungen, Darmstadt 1914, S.700ff.

ix# Kalchschmidt, Kurt/Kappes Georg: Geschichte des Heidelberger Wingolf, in: Waitz, Hans [Hg.]: Geschichte der Wingolfsverbindungen, Darmstadt 1914, S.515ff.

x# Benrich, Johannes: Die Geschichte des Leipziger Wingolf, in: Waitz, Hans [Hg.]: Geschichte der Wingolfsverbindungen, Darmstadt 1914, S616ff.

xi# Barth, Heinrich: Chronik der Studentenverbindung Argentina zu Straßburg i.E. 1907-1967, Oberhausen 1969, S.12. Bei der Burschenschaft handelt es sich um die Burschenschaft Germania. Sie verlegte 1919 nach Frankfurt und ist heute in Tübingen beheimatet.

xii# In Die Hauptmomente in der Geschichte des Chargiertenconvents, in: Baltische Monatsschrift 36(1894), S. 402 und in Ein Blatt der Erinnerung an die Dorpater Arminia, in: Wingolfsblätter 1930, S.460f werden die Farben der Arminia als Schwarz-Weiß-Gold beschrieben.

xiii# Kleinschmidt, Hans: Geschichte des Göttinger Wingolf, in: Waitz, Hans [Hg.]: Geschichte der Wingolfsverbindungen, Darmstadt 1914, S.356.

xiv# Verband der Philister des Münchener Wingolfs [Hg.]: 100 Jahre Münchener Wingolf, München 1996, S.6.

xv# VAStW [Hg.]: Der Stuttgarter Wingolf 1900-2000, Stuttgart 2000, S.15.

xvi# Weidemann, M.: Geschichte des Kieler Wingolfs, in: Waitz, Hans [Hg.]: Geschichte der Wingolfsverbindungen, Darmstadt 1914, S.580.

xvii# Wingolfsblätter 1991, S.29.

xviii# Weidemann, M.: Geschichte des Kieler Wingolfs, in: Waitz, Hans [Hg.]: Geschichte der Wingolfsverbindungen, Darmstadt 1914, S.580f.

xix# Wingolfsblätter 1991, S.29.

xx# Kiepenkerl 2/2022 [Seite unbekannt, da die Printversion zum Redaktionsschluss noch nicht erschienen ist]. Siehe dazu auch: Riegelmeyer, Peter: Der Münstersche Wingolf in Berichten I 1903-1936, in: VAMstW [Hg.]: 100 Jahre Münstersche Wingolf, Hannover 2005, S.76.

Bild: Heidelberger Wingolf
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Paul Tillich – Gelehrter von Weltruf

Paul Tillich – Gelehrter von Weltruf

„Ich bin kein ausgeklügelt Buch / ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch.“ Dieser Vers Conrad Ferdinand Meyers, ursprünglich auf Ulrich von Hutten gemünzt, könnte auch über Tillichs Leben stehen.

Es hatte Licht- und Schattenseiten. Auch sein wissenschaftliches Werk wird von jüngeren Theologen zum Teil kritisch gelesen. Dennoch ist sein hoher Rang unbestritten. Paul Tillich war ein Gelehrter von Weltruf. Wer in seine Gedankenwelt eindringen will, muss aber nicht unbedingt dickleibige Werke durcharbeiten. Sie ist auch in mehreren Taschenbüchern enthalten, die für jedermann bei einigermaßen gutem Willen lesbar sind.

Der Beitrag stammt von P. Riegelmeyer (Mst 54, E 55, H 02) und erschien ursprünglich in den Wingolfsblättern, der Zeitschrift des Wingolfsbundes.

Die Berliner Zeit

Paul Johannes Tillich (Be 1904, T 1905, H 1905) wurde am 20. August 1886 in Starzeddel bei Guben in der Neumark (heute polnisch) geboren. Er wuchs im elterlichen Pfarrhaus als Erstgeborener auf, ihm folgten noch zwei Schwestern. Auch sein Vater Johannes Tillich war Wingolfit (Be 1875, T 1876). Nach einer Laufbahn in der Provinz gehörte er in Berlin als Oberkonsistorialrat und Pfarrer an der (im Zweiten Weltkrieg zerstörten) Bethlehemskirche zu den Spitzen des kirchlichen Lebens.

Im Sommer 1904 legte Paul Tillich am Friedrich-Wilhelms-Gymnasium in Berlin das Abitur ab. Er entschloss sich zum Studium der Theologie. Auf seinem Reifezeugnis steht die Bemerkung: „Interessiert sich für Philosophie.“ Damit waren die Weichen für sein künftiges wissenschaftliches Leben gestellt. Das Wintersemester 04/05, noch zu Hause verbracht, diente mehr dem Eingewöhnen.

Immerhin wurde Paul Tillich sofort im Berliner Wingolf aktiv. Dabei mag das Vorbild des sehr dominanten Vaters mitgeholfen haben. Im Wingolf machte er die Bekanntschaft von Hermann Schafft (H 1903, Be 1904, Bo 1913), der sein lebenslanger Freund werden sollte – und als solcher auch „Helfer und Führer“, wie Tillich selbst bekannte.

Wingolfit in Tübingen und in Halle

Tillichs zweite Universitätsstadt war Tübingen. Ein ehemaliger Conaktiver schrieb über ihn: „In meinem Tübinger Semester tauchte als Confux ein schmaler, bleicher Berliner auf (…) Er ging meist in tiefen Gedanken, etwas kurzsichtig und linkisch seines Weges (…) Es hieß, er habe schon als Gymnasiast Kants ‘Kritik der reinen Vernunft’ durchgearbeitet und machte ganz den Eindruck eines weltfremden Studierstubenmenschen. Das alles genügte, dass ich mich wenig mit dem blassen Jünger der Philosophie, der nicht reiten und fechten konnte, befasste.“ Das sollte sich allerdings rasch ändern! Der so urteilte, war Cph. Alfred Fritz (T 1904, H 1905, Ft 1925), der Tillichs enger Freund wurde und später dessen Schwester heiratete.

Paul Tillich setzte sein Studium und auch seine Aktivität in Halle fort. Die Hallenser Semester wurden entscheidend für seine wingolfitische Laufbahn und auch für seine theologische Entwicklung. 1907 wurde er zum Erstchargierten gewählt – ein erstaunlicher Vertrauensbeweis innerhalb einer Aktivitas von rund 80 (!) Köpfen, in der – im Unterschied zu heute – ein Überschuss an qualifizierten Kandidaten zur Verfügung stand. Mit Feuereifer stürzte er sich in die damals über viele Jahre hinweg im Bunde geführten Auseinandersetzungen um das Prinzip. Ein Streitpunkt war das Keuschheitsprinzip, das in Tillich einen kämpferischen Befürworter fand. Dies mutet einigermaßen absurd an, wenn man bedenkt, dass Tillich in den Zwanzigerjahren einen ausgesprochen lockeren Kurs in Sachen Keuschheit steuerte!

Studium und erste Berufsjahre

Über den Bundespflichten vernachlässigte Paul Tillich in Halle freilich das Studium nicht. Der unumstrittene Stern unter seinen Lehrern war der Dogmatiker und Neutestamentler Martin Kähler (H 1855). Die Hörsäle, in denen dieser las, waren stets bis auf den letzten Platz gefüllt. Tillich spricht in seinen Erinnerungen von dem „scharf geschnittenen Gelehrtenkopf, umrahmt von der ehrwürdigen … Künstlermähne“. Auch der Hallenser Wingolf, um den er sich viele Jahre gründlich kümmerte, brachte Kähler große Verehrung entgegen – er hieß allgemein das „Gewissen des Wingolfs“.

Nach Promotion in Breslau 1910 und Erwerb des Lizentiats (Halle 1911) wurde Tillich im August 1912 in der Matthäuskirche in Berlin zum Pastor ordiniert. 1912 bis 1914 war er Hilfsprediger im Arbeiterviertel Moabit. Hier begann er mit der Arbeit an seiner Habilitationsschrift über den Begriff des Übernatürlichen vor Schleiermacher; sie wurde 1916 fertiggestellt.

Erfahrungen im Krieg und in der Weimarer Republik

Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete sich Tillich, wie so viele von der gewaltigen Welle der nationalen Begeisterung mitgerissen, freiwillig zum Militär. Bis 1918 war er Feldprediger an der Westfront. Für seinen vor Verdun bewiesenen Mut wurde er mit dem Eisernen Kreuz erster Klasse ausgezeichnet. Insgesamt jedoch hat ihn der Krieg gewaltig ernüchtert. Er begrüßte die Revolution von 1918 und die Weimarer Republik und war Gründungsmitglied der Berliner Gruppe
religiöser Sozialisten.

Von 1919 bis 1924 war Tillich Privatdozent an der Berliner Universität. Als Professor für Systematische Theologie in Marburg wurde er vom Denken seiner Kollegen Rudolf Otto und Martin Heidegger stark beeinflusst. 1925 bis 1929 wirkte Tillich als Professor für Philosophie und Religionswissenschaft an der TH Dresden. 1926 erschien sein erster großer Publikumserfolg „Die religiöse Lage der Gegenwart“. An der Universität Leipzig las er 1927 bis 1929 zudem Systematische Theologie.

Im Konflikt mit dem Nationalsozialismus

1929 folgte Tillich einem Ruf an die Universität Frankfurt/Main und übernahm als Nachfolger von Max Scheler eine Professur für Philosophie und Soziologie. Hier erreichte seine Kontroverse mit dem Nationalsozialismus ihren Höhepunkt, vor allem durch seine Kontakte zu jüdischen Studenten und Kollegen, etwa zu Max Horkheimer oder zu Theodor W. Adorno, der sich bei ihm habilitierte.

In seinem Werk „Die sozialistische Entscheidung“ von 1932 differenzierte Tillich zwischen Religiösem Sozialismus, dogmatischem Marxismus und romantischem wie revolutionärem Konservatismus. Nach dieser Vorgeschichte war es kein Wunder, dass er schon am 13. April 1933 vom Amt suspendiert und noch vor Ende des Jahres endgültig entlassen wurde. Das Buch fiel der landesweit organisierten Verbrennung missliebiger Schriften zum Opfer. Tillich hat die gespenstische Szene am 10. Mai 1933 in Frankfurt selbst beobachtet.

Danach hatte er in Deutschland keine Chance zu unabhängiger Arbeit mehr, er war sogar akut gefährdet. Glücklicherweise erkannten das auch andere, unter ihnen der prominente amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr (1892-1971), der Tillichs Theologie kannte und durch dessen Vermittlung Tillich nach der Emigration mit seiner Familie am Union Theological Seminary in New York unterkam. Später erhielt Tillich dort einen Lehrstuhl für Philosophie und Systematische Theologie.

Im amerikanischen Exil

Die Zeit des Eingewöhnens war nicht leicht, zumal Tillich erst Englisch lernen musste und ihm die Übersetzung seiner eigenwilligen Fachterminologie ins Englische große Mühe bereitete.

Später wurde er Professor in Harvard (1955-1962) – sein Ritterschlag in der US-amerikanischen Bildungswelt. In seinen letzten Lebensjahren lehrte er an der Divinity School der Universität Chicago. Die Kontakte nach Europa und Deutschland hielt er während der Hitlerzeit aufrecht. Er legte Wert auf die Feststellung, keine Zeile geschrieben zu haben, die Deutschland schaden könnte. Trotz häufiger Reisen in das Deutschland der Nachkriegszeit, beginnend schon 1948, kam eine dauerhafte Rückkehr in die alte Heimat für ihn offenbar nicht in Frage.

In Amerika wurde Tillich durch seine Vorlesungen, Bücher, Predigten und rege Vortragstätigkeit schnell bekannt. Seine eigene Erfahrung vom Leben auf der Grenze zwischen Glauben und Zweifel, Kirche und Gesellschaft, Heimat und Fremde schilderte er in „Auf der Grenze“ (1936, und seine Bejahung eines Sinns des Daseins auch angesichts des Nichtseins stellte er in „Der Mut zum Sein“ (1952, die dt. Übersetzung folgte schon 1953) dar.

Ein reiches Lebenswerk

Tillich erhielt zahlreiche internationale Auszeichnungen, u. a. den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1962). Die Laudatio hielt zu diesem Anlass Bischof Otto Dibelius. Reisen in den Nahen und den Fernen Osten und sein Buch „Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen“ (deutsch 1964) zeigen die Richtung seiner letzten Lebensjahre. Paul Tillich starb mitten aus der Arbeit heraus an den Folgen eines Herzinfarkts am 22. Oktober 1965 in Chicago. Seine sterblichen Überreste wurden in dem nach ihm benannten Park in New Harmony, Indiana, beigesetzt.

Tillichs Lebenswerk wurde aus diesem Anlass in den Wingolfsblättern von mehreren Autoren angemessen gewürdigt. Auch seine Werke wurden jeweils ausführlich rezensiert. Das bewegendste Denkmal hat ihm sein Leibfux, der Mediziner Heinrich Meinhof (H 1907, Be 1909), gesetzt, der seine Erinnerungen aus fast sechzig Jahren der Gemeinsamkeit in sehr persönlicher Weise zusammenfasste.

Vom Befragten weniger geschätzt war das Auftauchen von Hallenser Wingolfsreminiszenzen in Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“, die der Dichter in den USA brieflich aus Tillich herausgefragt hatte, freilich ohne zu verraten, wofür er sie benutzen wollte. In dem bewussten Brief steht auch der vielzitierte Satz: „Die schönste Zeit meines Lebens war, als ich x im Hallenser Wingolf war!“

Karl Barth, Rudolf Bultmann und Paul Tillich beherrschten als Dreigestirn die deutschsprachige evangelische Theologie des 20. Jahrhunderts. Tillichs Thema hieß: „Gott ist der Name für das, was den Menschen unmittelbar angeht.“ Darum konnte er sagen: „Wirklicher Atheismus ist keine menschliche Möglichkeit; denn Gott ist dem Menschen näher als der Mensch sich selbst.“ Jesus Christus ist und bringt das „Neue Sein“, das darin besteht, dass der Mensch nicht mehr von Gott entfremdet ist, sondern mit ihm und damit mit sich selbst und der Welt eins ist. Der Kern von Tillichs vielberufener Korrelationsmethode bedeutet, dass der Mensch hier wirklich als mündig-autonomer Partner Gottes und damit als Mensch ernst genommen wird. Uns, die wir als junge und alte Bundesbrüder in der Gemeinschaft des Wingolfs zusammenleben wollen, gilt die Herausforderung, uns dieser Anrede Gottes täglich neu zu stellen.

Bild: Richard Keeling, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
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Karl Zeiß – der „Olympiapfarrer“

Karl Zeiß – der „Olympiapfarrer“

Der Wingolfit Karl Zeiß (Gi 31, H 33, Dp 35) war evangelischer Seelsorger bei den Olympischen Spielen 1972.

Voller Hoffnung und Zuversicht wurden sie erwartet: Die olympischen Sommerspiele, die 1972, also vor einem halben Jahrhundert in München stattfanden. Ein frohes Fest des internationalen Sports sollte es werden. In München wollte Deutschland zeigen, wie sehr es sich verändert hatte, seit 36 Jahre zuvor in Berlin die Olympischen Spiele im Schatten der Hakenkreuzfahne ausgetragen worden waren. Das Land, das vor gar nicht so langer Zeit Europa und die Welt in einen schrecklichen Krieg gestürzt hatte; das Land, von dem die Shoah ausgegangen war – hier präsentierte es sich als geläutert. Zumindest im Westen des Landes hatte sich eine stabile Demokratie etabliert, war eine offene, tolerante Gesellschaft entstanden. Das war die Botschaft, die 1972 von München ausgehen sollte.

Das von palästinensischen Terroristen verübte blutige Attentat auf die israelische Olympiamannschaft bereitete der fröhlichen Stimmung ein jähes Ende, auch wenn der damalige IOC-Präsident Avery Brundage sich mit seiner Forderung „The games must go on“ durchsetzen konnte. An all das wurde in diesem September immer wieder erinnert, Gedenkfeiern wurden abgehalten, um eine angemessene Entschädigung der Angehörigen der Opfer wurde gerungen. Aber auch an sportliche Highlights der Olympiade von 1972 wurde erinnert.

Der Weg zum Sportseelsorger

Über eine Person, die zumindest am Rande eine Rolle spielte, wurde jedoch nicht berichtet: über den Wingolfiten Karl Zeiß (Gi 31, H 33, Dp 35), den „Olympiapfarrer“, der die evangelische Seelsorge während der Münchner Olympiade zu koordinieren hatte. Als Aktiver hatte Karl Zeiß im Gießener Wingolf eine Gruppe von Theologiestudenten organisiert, die sich dem absoluten Führungsanspruch der Nationalsozialisten und der „Deutschen Christen“ widersetzten und sich der Bekennenden Kirche zuwandten.

Nach seiner Zeit als Soldat im Zweiten Weltkrieg und der nachfolgenden Kriegsgefangenschaft wurde Karl Zeiß Pfarrer der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, deren Synode er von 1954 bis 1988 angehörte. Hier fand er auch zu dem großen Thema, das ihn sein Leben lang umtreiben sollte: die Sportseelsorge. Mit Vorträgen und Büchern, etwa dem 1962 erschienenen Werk „Christ und Sport“, plädierte er für eine positive Einstellung der Kirche zum Sport und auch zu sportlichen Großveranstaltungen – ein Anliegen, das damals keineswegs selbstverständlich war. Voller Engagement initiierte und förderte Karl Zeiß den Dialog zwischen Kirche und Sportverbänden. Anlässlich eines Motorradrennens auf dem zwischen Gießen und Fulda gelegenen Schottenring zelebrierte er erstmals einen evangelischen Gottesdienst bei einer sportlichen Großveranstaltung. Als EKD-Beauftragter begleitete er die deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei fünf olympischen Spielen (Helsinki 1952, Rom 1960, Innsbruck 1964, Mexiko 1968 und München 1972). Auch bei den Fußballweltmeisterschaften von 1954, dem „Wunder von Bern“, und 1974 vertrat er die evangelische Kirche. Bei alldem war Karl Zeiß nicht blind gegenüber den negativen Auswüchsen im Leistungssport: „Mein Vater witterte auch bereits früh die ethischen Probleme, etwa den Betrug durch leistungssteigernde verbotene Substanzen,“ zitierte die Gießener Allgemeine Zeitung am 13. April 2012 Zeiß‘ Sohn Wolfgang.

Den Glauben zu den Menschen bringen

Karl Zeiß war es ein Anliegen, den Glauben, die Kirche zu den Menschen zu bringen. Deshalb engagierte er sich für die Sportseelsorge, deshalb initiierte er gemeinsam mit Erich Warmers (E Nstft 47, M 48, Ft 55) die „Campingseelsorge“, mit der er auch die Urlauber erreichen wollte, deshalb setzte er sich als Pfarrer in Frankfurt a. M. gemeinsam mit seiner Frau gegen Immobilienspekulation und Mietwucher ein.

Übertriebene Strenge?

Allerdings zeigte Karl Zeiß manchmal auch eine Strenge, die aus heutiger Sicht (und erst recht aus der Sicht eines rheinischen Katholiken, wie der Verfasser einer ist) befremdlich erscheint: So setzte er durch, dass ein Vergnügungslokal im Frankfurter Bahnhofsviertel namens „Himmel und Hölle“ den „Himmel“ aus seinem Namen streichen musste. Genüsslich zitiert die „Gießener Allgemeine Zetung“ in der o. g. Ausgabe in diesem Zusammenhang eine Schlagzeile aus der Nachtausgabe der Frankfurter „Abendpost“: „Der Sieg des Pfarrers, der ‚Himmel‘ muss weg!“ Auch gegen den vom Kölner Volksschauspieler Willy Millowitsch gesungenen Karnevalsschlager des Jahres 1960 „Schnaps, das war sein letztes Wort, dann trugen ihn die Englein fort“ ging Karl Zeiß auf die Barrikaden. Er fand, hier werde die Sünde verharmlost. Wenn das letzte Wort eines Menschen „Schnaps“ sei, so sei er weit entfernt von jeder Erlösung. In dieser Hinsicht werde in dem Lied der christliche Glaube lächerlich gemacht.

Das Erlebnis des Jahres 1972 Wie Karl Zeiß das Attentat auf die israelische Olympiamannschaft erlebt hat, darüber konnte der Verfasser bislang kein Material finden. Aber es ist anzunehmen, dass diese Ereignisse nicht spurlos an Karl Zeiß vorübergingen, dass er in sportpolitische und seelsorgliche Gespräche involviert war, in denen sie eine Rolle spielten. Jemand, der bei all seiner – vielleicht bisweilen überzogenen – Strenge den Menschen so zugewandt war, wie Karl Zeiß, dürfte auch hier die Menschen im Blick gehabt und mit ihnen mitgelitten haben.

 

Bild: Gregor Baldrich, Deutsches Sport & Olympia Museum, Attribution, via Wikimedia Commons
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Harald Braun – bedeutender Regisseur

Harald Braun – bedeutender Regisseur

Die Geschichte des deutschen Filmschaffens wäre unvollständig, wenn man neben bedeutenden Regisseuren der Fünfziger- und Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts wie Helmut Käutner und Wolfgang Staudte den Namen Harald Braun (Be 19, Fr 20) unterschlagen würde.

Ihm gelang es ebenso wie diesen Kollegen, Filme zu drehen, die in jenen Jahren künstlerisches und ethisches Niveau mit dem Kassenerfolg verbanden. Es lohnt sich für uns, seiner hier zu gedenken: Harald Braun war nämlich Wingolfit! Er wurde am 26. April 1901 als Pfarrerssohn in Berlin geboren und wuchs auch dort auf. Als Wingolfit erscheint er erstmals in dem großen Nachkriegsvademecum von 1925 – schon als Dr. phil. und wiederum mit dem Wohnsitz Berlin.

Der Beitrag stammt von P. Riegelmeyer (Mst 54, E 55, H 02) und erschien ursprünglich in den Wingolfsblättern, der Zeitschrift des Wingolfsbundes.

Der Literaturkritiker

1924, fast noch als Student, wurde er Schriftleiter der Literaturzeitschrift „Eckart“. Er hatte selbst über Liliencron promoviert. Jetzt aber ging es um Werfel und Wiechert, um Benn und Döblin, um Thiess und Jünger, um Barlach und Wassermann. Gegen Ende von Brauns Arbeit am „Eckart“ trat auch Rudolf Alexander Schröder in diesen Kreis ein. Schließlich wagte Braun eine Zusammenfassung des bisher Geleisteten, der er den Titel „Dichterglaube“ gab. Das Buch fand starke Beachtung.

1932 wechselte Harald Braun ins Funkhaus an der Masurenallee. Dort übernahm er die literarische Abteilung und betätigte sich auch als Hörspielregisseur. Aus den ersten Monaten dieser Tätigkeit rührt seine Bekanntschaft mit dem Dichter Jochen Klepper her, die in dessen Tagebuchaufzeichnungen ihre Spuren hinterlassen hat.

Drehbücher und erste Regiearbeiten

Am 1. Oktober 1933 wurde Harald Braun beim Berliner Sender gekündigt. Aber er fiel sozusagen die Treppe hinauf. Obwohl er alles andere als ein Parteigänger der Nationalsozialisten war, gelang es ihm, in die Filmbranche einzusteigen. So etwas war damals noch möglich. Er betätigte sich zunächst als Drehbuchautor: Die Bücher zu den Filmen „Das Herz der Königin“ von 1940 (Zarah Leander als Maria Stuart!) und „Der Weg ins Freie“(1941, ebenfalls mit Zarah Leander) stammen von ihm Brauns erste Regiearbeit wurde der nach dem bekannten Roman von Otto Ludwig (1856) gedrehte Spielfilm „Zwischen Himmel und Erde“. Für die Außenaufnahmen zu diesem im Dachdeckermilieu spielenden Film ging Harald Braun in das damals – 1942 – noch unzerstörte Niederrheinstädtchen Xanten. Die Stadt bekam für sein Leben und Sterben schicksalhafte Bedeutung.

Durch seinen Erstling machte der Regisseur Harald Braun immerhin so auf sich aufmerksam, dass er bis Kriegsende noch ambitionierte Filme wie „Träumerei“ (1943, über das Leben Robert Schumanns, mit Mathias Wieman und Hilde Krahl) und „Nora“ (1945, nach Ibsens Drama) drehen konnte.

„Die Nachtwache“

Nach 1945 rückte Harald Braun erstaunlich schnell in die erste Reihe der deutschen Filmregisseure vor. Er avancierte 1947 zum Leiter der „Neuen Deutschen Filmgesellschaft“. 1949 kam der große Durchbruch mit dem Film „Nachtwache“, an den sich die älteren unter uns noch erinnern mögen. Harald Braun wagte es hier, in den Mittelpunkt der Filmhandlung zwei Geistliche zu stellen, einen evangelischen und einen katholischen, die in ökumenischer Eintracht zusammenarbeiten. So etwas hatte es im deutschen Film überhaupt noch nicht gegeben. Braun war durch seine Herkunft bis ins kleinste Detail mit dem christlich-kirchlichen Milieu vertraut.

Er arbeitete auch in diesem Film – ebenso wie in seinen späteren – mit der ersten Garnitur der deutschen Schauspielerei zusammen. Ihm standen bewährte, erfolgversprechende Kämpen aus Ufa-Zeiten zur Seite: René Deltgen, Luise Ulrich, Hans Nielsen – Letzterem gelang damit der Sprung ins Charakterfach. In der Rolle des Kaplans Imhoff trat ein Schauspieler erstmals vor das deutsche Kinopublikum, der damit schlagartig zum Filmstar der Nachkriegszeit wurde und bis zu seinem Tode auf der Leinwand wie auf dem Bildschirm in großer künstlerischer Wandlungsfähigkeit brillierte: Dieter Borsche. Er war zu dieser Zeit trotz seines jugendlichen Aussehens schon 40 Jahre alt und hatte einige Jahre Theater in der Provinz sowie die Kriegsteilnahme bereits hinter sich. Seiner Ausstrahlung als edler Charakter verdankte er dann noch eine Reihe weiterer Priester- und ärzterollen. Später konnte Borsche zeigen, dass auch ganz andere Charakterzüge in den von ihm verkörperten Gestalten steckten.

Harald Braun hat die in der „Nachtwache“ begonnene Linie nicht fortgesetzt. Es blieb einer der merkwürdigsten und isoliertesten Erfolge der Filmgeschichte. Binnen 18 Monaten sahen ihn sieben Millionen Menschen; er heimste eine Fülle von Auszeichnungen ein – vom Prädikat „Künstlerisch wertvoll“ bis hin zu zwei „Bambis“.

Brauns weiteres Schaffen

In den nächsten Jahren drehte Harald Braun in rascher Folge einen Film nach dem anderen. Er war in seinem Metier ein gefragter Mann. Ich erinnere mich, dass ich 1951 beim Berliner Kirchentag seinen Film „Der fallende Stern“ sah. Er gab neuerlich Dieter Borsche die Chance, seine Karriere als Lichtgestalt des deutschen Films auszubauen; außerdem aber ermöglichte er dem großen Mimen Werner Krauß, der durch seine Mitwirkung in dem Film „Jud Süß“ in der Film- und Theaterlandschaft der Nachkriegszeit völlig verfemt war, ein Comeback. Krauß durfte noch einmal – acht Jahre vor seinem Tode – vor einem breiten Publikum die schillernde Skala seiner reichen darstellerischen Möglichkeiten entfalten. 1952 drehte Harald Braun „Herz der Welt“, wieder mit Borsche, Wieman und Hilde Krahl, einen Film von ebenso hohem künstlerischen wie ethischen Anspruch über das Leben der österreichischen Pazifistin Bertha von Suttner.

Im Jahr darauf legte er den Spielfilm „Solange du da bist“ vor. Dieser Film markierte eine Wende in der öffentlichen Aufnahme von Brauns Schaffen. Er hatte, mit Maria Schell und Hardy Krüger, mit O. W. Fischer und Brigitte Horney ganz nach Publikumsgeschmack besetzt, die Geschichte der inneren Läuterung eines Traumfabrik-Regisseurs zum Thema, war also zum Teil ein Film über den Film. Erstmals wurden, neben reichlichem Beifall, auch Stimmen der Enttäuschung vernehmbar. Sie bemängelten eine gewisse Feierlichkeit, eine übersteigerte Neigung zu Symbolik und Allegorie.

Einen regelrechten Verriss erlebte Harald Braun schließlich mit seinem Film „Der letzte Sommer“ (1954) Auch wenn ihn die Evangelische Filmgilde zum „besten Film des Monats“ erklärte, schien er den meisten Kritikern ein Beweis für die These, dass sich hinter dem Regisseur, den einer seiner Bewunderer den „Humanisten und Moralisten unter den deutschen Filmschöpfern“ genannt hatte, ein verkappter Reaktionär, ein gefährlicher Apologet des Bestehenden verberge. Friedrich Luft, der Berliner Kritikerpapst, verstieg sich sogar zu dem Wunsch, es möge eine kleine Bombe platzen, damit das gefällige Edelmenschentum, wie es Brauns Filme beherrsche, zumindest einen Schock bekomme: „Was ist mit Harald Braun, dass er den Mut zur eigenen Courage am Ende doch auf triste Weise fehlen lässt?“

Trotzdem drehte Harald Braun in den fünfziger Jahren weiterhin Film um Film, darunter so ambitionierte wie „Königliche Hoheit“ nach dem Roman von Thomas Mann, wiederum mit Dieter Borsche und der inzwischen zum Publikumsliebling avancierten Ruth Leuwerik. Der „Zauberer“ äußerte seine Zufriedenheit über das Ergebnis. Bedauerlicherweise hat man ganz selten einmal die Chance, einen dieser Filme wiederzusehen.

Unverwirklichte Pläne

Fast interessanter als diese fertiggestellten Filme sind die Filmpläne, die Harald Braun aus den verschiedensten Gründen nicht verwirklichen konnte. So wollte er unter dem Titel „Die Zeit ist kurz“ das Leben Friedrichs von Bodelschwingh verfilmen. Dass dieses Projekt nicht zustandekam, lag offenbar nicht nur an wirtschaftlichen Schwierigkeiten.

Die Biografen reden recht sibyllinisch von innerkirchlichen Querelen und davon, dass es Braun trotz vieler Drehbuchentwürfe nicht gelang, seine Sicht von diesem großen Kirchenmann mit der in Bethel gehüteten Tradition zur Übereinstimmung zu bringen. Wie auch immer – was hätte das für ein Film werden können, besonders wenn es auch noch gelungen wäre, die Rolle Bodelschwinghs mit einer angemessenen Schauspielerpersönlichkeit zu besetzen!

Schmerzlich war es für Harald Braun auch, dass er das schon weit vorangetriebene Projekt einer Verfilmung der „Buddenbrooks“ in andere Hände legen musste. Er wollte gerade zu den Dreharbeiten abreisen – da warf ihn ein erster Herzinfarkt auf ein langes Krankenlager. 1960 dann trat er wieder ganz gesund und unbeschwert noch einmal in ein Berliner Atelier, um für die Länge eines Spielfilms seine Arbeit in gewohnter Weise zu tun. Danach machte er sich auf den Weg, um Motive für das Fernsehspiel „Die Hochzeit der Feinde“ (nach der Novelle von Stefan Andres) zu sammeln.

Die erste Arbeit für das neue Medium sollte die erwünschte Bewährungsprobe nach dem Verblassen seines Ruhms als Filmregisseur werden. Die Schauplätze für die Außenaufnahmen suchte er in seiner Lieblingslandschaft am Niederrhein. In Xanten, der Stadt, wo sein erster Film spielte, wo er auch immer wieder einmal aufgeführt wird, wo sich ältere Bürgerinnen und Bürger noch lange an ihr Mitwirken als Statisten und an das unzerstörte Vorkriegsgesicht ihrer Stadt erinnerten – in Xanten in einem Hotelzimmer holte ihn am 24. September 1960 der Tod ab. Begraben liegt er in München.

Harald Brauns Filme – darin sind sich die Biographen einig – sind auch Ausdruck dessen, was er selbst als Christ glaubte und fühlte. Insofern steckt in ihren Bildern und Worten auch ein Stück Verkündigung! Er gehörte der Kunst, er gehörte seinem Publikum, er gehörte der Welt. Aber wir Wingolfiten dürfen sagen: Er war auch Geist von unserem Geiste.

Bild: Harald Braun (Be 19, Fr 20) auf einem Pressefoto aus dem Jahr 1949.
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Rede zum Totengedenken am Wingolfsdenkmal

Rede zum Totengedenken am Wingolfsdenkmal

Zu jedem Wartburgfest gedenkt der Wingolf am Wingolfsdenkmal in Eisenach seinen Toten der Kriege der Vergangenheit, heute auch allen Opfern von Verfolgung und Kriegen. Das Gedenken am Wingolfsdenkmal umschließt auch Todesfälle aus dem Wingolfsbund und dem Verband Alter Wingolfiten (VAW) aus unserer Zeit. Anlässlich des Totengedenkens sprechen der Sprecher des Wingolfsbundes und der Vorsitzende des VAW. Wir dokumentieren hier die Rede von Alexander Braun (Bundessprecher 2017-2019).


Werte Damen,
liebe Gäste,
liebe Farbengeschwister, Philister und Bundesbrüder,

der Wingolf erinnert hier am Wingolfsdenkmal zu seinen Wartburgfesten seiner Toten in den Kriegen der deutschen Vergangenheit. Mithin allen Opfern von Kriegen. Für manche ist Krieg nur die Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln, wir Wingolfiten wissen: Krieg ist immer eine Niederlage. Die Toten mahnen uns.

Dass wir auch heute hier innehalten und der Toten gedenken, ist nicht selbstverständlich. In der Hast und Oberflächlichkeit unserer Zeit geht das Nachdenken über die Vergangenheit leicht unter. Das Jahr 2019 ist besonders geprägt durch Jahrestage, die uns auf unsere Geschichte verweisen. Auf zwei von ihnen möchte ich hier kurz eingehen, weil sie unser Andenken einordnen können. Ja, ohne die Erinnerung an diese historischen Ereignisse geriete das Gedenken an die Toten des Wingolf zu einer leeren Übung oder zu einer selbstverliebten Nabelschau.

Vor 100 Jahren versammelten sich die Abgeordneten der Nationalversammlung in Weimar, also in unmittelbarer Nähe zu Eisenach, unserer Bundesstadt, in der wir dieser Tage erneut zusammenkommen. Das Zusammentreten dieser verfassungsgebenden Versammlung war eine Folge der erfolgreichen Revolution des deutschen Volkes. Eine Revolution, die viele Gegner hatte. Auch aus den Reihen des Wingolf standen viele Brüder der jungen Demokratie feindselig gegenüber.

Aus dem Ersten Weltkrieg ging der Wingolf geschwächt hervor. Viele Brüder hatten an der Front ihr Leben gelassen oder waren durch das Miterleben des Krieges für alle Zeiten an Körper und Seele verwundet. Doch führte das Trauma des Weltkrieges nicht – oder gerade nicht? – dazu, dass auch die Wingolfiten jener Tage dem Götzen des Nationalismus abschworen, der Europa in den Krieg gestürzt hatte.

Schon bald erhob sich – besonders unter den Studenten, auch den Wingolfiten – ein neuer, militanter Nationalstolz, der die Abwertung anderen Nationen und – nur etwas später – sogenannter „Rassen“ gebrauchte, um das Selbstwertgefühl einer neuen Generation zu stärken. Doch überwand der Stolz auf die Nation und auf das Deutschtum gerade nicht die Traumata des Krieges, auch nicht die empfundene Demütigung durch den Vertrag von Versailles. Nein, Chauvinismus und Hass kennen keine Befriedigung, sie nähren sich immer weiter.

Vor 80 Jahren wurde hier in Eisenach das „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ von elf evangelischen Kirchen gegründet. Erst seit ein paar Wochen erinnert ein weiteres Mahnmal hier in unserer Bundesstadt an dieses historische Datum.

Das Institut hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das Christentum von allem Jüdischen zu reinigen. Ein Vorhaben, das nur misslingen konnte. Unser christlicher Glaube gründet in der Geschichte Gottes mit seinem Volk, mit dem Volk Israel, dass er durch alle Zeiten und bis heute erwählt hat. Die bleibende Erwählung Israels durch Gott wurde von den Nazi-Theologen bestritten. Sie interpretierten die Bibel um, bis Jesus und Paulus als „Arier“ galten. Sie strichen Lieder aus dem Gesangbuch, die wie das gerade eben gehörte „Tochter Zion“ an die jüdische Geschichte des christlichen Glaubens erinnern.

Die zum großen Teil jungen Theologen des „Entjudungsinstituts“ gingen begeistert und eifrig ans Werk. In ihrer Verblendung waren sie sich sicher, mit ihrer Arbeit dem wahren Christentum zu dienen, das ein „deutsches Christentum“ sein müsse. Im Deutschtum verwirkliche sich erst, was Jesus im Neuen Testament predige. Damit bereiteten die Theologen des Instituts die Vernichtung der Europäischen Juden ideologisch vor. Sie erschien selbst „guten Christenmenschen“ als absolut folgerichtig.

Die Christen und Theologen, darunter viele Wingolfiten, sind in dieser Zeit schuldig geworden. Sie haben den christlichen Glauben auf dem Altar des Nationalismus und Antisemitismus geopfert. Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden die Kirchen nur zögerlich zu einem Eingeständnis ihrer Schuld. Und wer von uns traut sich heute mit Gewissheit einschätzen zu können, was in den Köpfen der vielen jungen und alten Wingolfiten vorging, die 1945 den Zweiten Weltkrieg im Rücken auf die Reste der einstmals stolzen Tradition des Wingolf schauten?

Trotz vieler Kontinuitäten deutscher studentischer Kultur, haben die Studentenverbindungen und der Wingolf nach dem Zweiten Weltkrieg einen Platz im neuen demokratischen Deutschland gefunden. Sie haben die Fehler der Weimarer Zeit nicht wiederholt, auch wenn es bis heute Studentenverbindungen gibt, die ihre Rolle in der deutschen Demokratiegeschichte mit Füßen treten, indem sie nationalistisches und rassistisches Gedankengut fördern. Auch davon weiß diese Stadt zu erzählen.

Der Wingolf ist nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Ort lebendigen staatsbürgerlichen Denkens und Handelns geworden. Das ist nicht selbstverständlich. Wir gedenken hier am Wingolfsdenkmal ja vor allem jungen Männern, die in Kriegen kämpften und starben, in die sie mal mehr, mal weniger begeistert und überzeugt zogen oder hineingezogen wurden. Welches Glück haben wir seit nunmehr fast 75 Jahren, dass Deutschland mit seinen Nachbarn Frieden hält?

Lasst uns daran denken, dass Nationalismus und Rassenhass am Ende in Schützengräben führen, erst mentale, dann reale. Schützengräben, wie sie es in unserer Vergangenheit reichlich gab. Schützengräben, die auch heute wieder ausgehoben werden. Konkret hier in Thüringen und in Deutschland, in Europa, ja, leider auf der ganzen Welt. Schützengräben, von denen wir hoffen, dass es uns gelingt, sie zuzuschütten. Dazu mahnen uns die Toten, auch die des Wingolf.

Ich möchte enden mit Worten von Richard von Weizsäcker, die er in seiner Rede zum 8. Mai 1985 gebraucht hat. Das ist jetzt fast 35 Jahre her, unsere jungen Wingolfsbrüder kennen sie vielleicht aus dem Geschichtsunterricht. Er rief dazu auf, der Wahrheit so gut es geht ins Auge zu schauen. Das bleibt Auftrag auch für uns Wingolfiten.

„Wir haben als Menschen gelernt, wir bleiben als Menschen gefährdet. Aber wir haben die Kraft, Gefährdungen immer von neuem zu überwinden. Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feindschaften und Hass zu schüren.
Die Bitte an die jungen Menschen lautet:
Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass
gegen andere Menschen,
gegen Russen oder Amerikaner,
gegen Juden oder Türken,
gegen Alternative oder Konservative,
gegen Schwarz oder Weiß.
Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander.“


Weitere Informationen zur Geschichte des Eisenacher sog. “Entjudungsinstituts” finden Sie in diesem Beitrag.

Alle Ansprachen des Vororts zum 77. Wartburgfest sind unter dem Titel “Es gilt das gesprochene Wort” als PDF-Dokument und gebundene Druckfassung erhältlich: Weitere Informationen.

(Bild: Foto Hartmann-Lotz im Auftrag des Wingolfs)

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Von Weimar bis heute – Grußwort zum Wartburgfest 2019

Von Weimar bis heute – Grußwort zum Wartburgfest 2019

Der Verfassung der ersten deutschen Republik entstand fern von der Reichshauptstadt, denn als die Volksvertreter sich nach der Januarwahl zum ersten Mal versammelten, wählten sie Weimar als Tagungsort. Von den Denkmälern der deutschen Klassiker in der thüringischen Kleinstadt strahlte der Geist der Vernunft, während über den Strassen Berlins noch der Blutgeruch der Kämpfe zwischen dem kommunistischen Spartakus und regierungstreuen Truppen lag. Kein Abgeordneter wollte in die Gefechte der verfeindeten Gruppen geraten und als Geisel genommen werden. Also: Ab nach Weimar!

Ein Land in schwieriger Verfassung

Doch auch als die Verfassung verabschiedet war, kehrte kein Friede ein. Zu stark waren die sozialen Verwerfungen, die der Krieg angerichtet hatte. Zu laut die Hetzparolen der Kaisertreuen, die die Spitzen der neuen Republik verächtlich machten und die Morde an demokratischen Politkern wie Matthias Erzberger und Walther Rathenau beklatschten. Zu unversöhnlich die kommunistische Linke, die auf Befehl aus Moskau eher die Nazis an die Macht kommen liess, statt die Zusammenarbeit mit den demokratischen Parteien zu suchen.

Diese Unwucht in der Gesellschaft konnte die beste Verfassung nicht heilen. Dazu kamen ökonomische Krisen wie Inflation und Weltwirtschaftskrise, die tief in das Mark nicht nur des Proletariats, sondern auch des Bürgertums einschnitten. Hunger, sozialer Abstieg und die Erfahrung, nicht mehr dazuzugehören, entfremden die Bürger von jedweder Obrigkeit, auch von der demokratisch legitimierten. So war es nicht die Verfassung von Weimar, die die Republik letztlich scheitern liess, es waren Umstände, die jenseits der Verfassungsartikel lagen und für die die Väter und Mütter dieser ersten deutschen Verfassung mangels prophetischer Gabe kein Antidot einbauen konnten.

Die Zerrissenheit der Gesellschaft, die bei so grundstürzenden Veränderungen wie Krieg und Wechsel der Staatsform kaum zu vermeiden ist, spiegelte sich in der Parteienlandschaft wider. Im rechten, im linken und im liberalen Lager vervielfältigten sich die Parteien und mangels einer Fünf-Prozent-Hürde für den Einzug in den Reichstag und die Länderparlamente wurde die Regierungsbildung schwierig. Je mehr Parteien und Parteiflügel in den Kabinetten vertreten waren, um so mehr blockierte interner Streit eine konsistente Regierungsarbeit.

Tragisches Beispiel mit weitreichenden historischen Folgen ist 1930 der Sturz der Regierung Hermann Müller (SPD). Seine fragile Vierparteien-Koalition hatte sich nach langen Mühen auf eine Reform der Finanzierung der Arbeitslosenversicherung verständigt. Doch der linke SPD-Flügel liess die Verständigung platzen.

Damit brach die Koalition der Demokraten, und es begann die Herrschaft der Notverordnungen des reaktionären Reichspräsidenten Hindenburg. Das Land schlitterte in einen Abgrund. Es folgte die Machtübernahme der Nationalsozialisten. Bei der ständigen Suche nach Kompromissen, hatten die Parteien ihre klaren Alleinstellungsmerkmale und damit auch das Vertrauen ihrer jeweiligen Wählerschaft verloren. Das begünstigte den Aufstieg von Populisten, die den Unmut mit wohlfeilen Versprechungen aufsaugten, den Sturz des demokratischen Systems predigten und schliesslich vollendeten.

Lehren aus Weimar

Welche Lehren sich für heute aus dieser Weimarer Entwicklung ziehen lassen, ist nicht einfach zu sagen. Die Fünf-Prozent-Hürde ist hilfreich. Sie hat Parteien wie NPD oder Republikaner nicht gehindert, in die Parlamente einzuziehen, aber sie hat sie auch in ihrem Niedergang nicht künstlich durch Parlamentspräsenz am Leben erhalten. Sie hat die AfD nicht gestoppt. Aber mit zunehmender Stimmenzahl und entsprechender Beachtung von aussen wurde deutlich, dass die Partei von Machtkämpfen und inhaltlichen Konflikten zerfressen ist und mithin die Ansprüche, die sie an die anderen Parteien stellt, selbst nicht erfüllen kann.

Hoffnung kann nur daran liegen, dass die demokratischen Parteien jeweils zu einem Debattenstil finden, der nach aussen getragenen Streit vermeidet, und dass am Ende eine gemeinsame parteipolitische Positionierung steht. Denn Parteien, die im Dauerkonflikt mit ihren Flügeln stehen, sind miserable Verhandlungspartner. Sie zerlegen sich selbst und machen Koalitionen brüchig.

Die Mütter und Väter des Grundgesetzes von 1949 haben nach den unrühmlichen Erfahrungen mit der Machtfülle des Reichspräsidenten die Eingriffsmöglichkeiten des Staatsoberhauptes der Bundesrepublik in die Regierungs- und Parlamentsarbeit auf ein Minimum reduziert. Nur die Prüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmässigkeit und die Auflösung des Bundestages auf Bitten eines Kanzler, der selbst samt einem Nachfolgekandidaten keine Mehrheit im Parlament findet, sind ihm an Rechten geblieben.

Dass ein Präsident aufgrund seiner Autorität dennoch Einfluss nehmen kann, hat Frank-Walter Steinmeier bewiesen, als er nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen auf die SPD einwirkte, sich der Regierungsverantwortung nicht zu entziehen. Durch diesen Appell hat er zugleich unterstrichen, dass das Parlament sich in Krisensituationen nicht davon stehlen und in Neuwahlen flüchten kann, sondern seiner Macht entsprechend auch Entscheidungsstärke zu beweisen hat. Nur ein entscheidungsstarkes, selbstbewusstes Parlament kann die Achtung der Bürger gewinnen. Diese Einsicht hatten Weimarer Parteien noch nicht.

Die Rolle der Medien

Bleiben die Medien. Während die klassischen Medien – Presse, Radio, Fernsehen und ihre digitalen Portale – nach 1945 im Westen des Landes unter dem Einfluss englischer und amerikanischer Presseoffiziere den Weg zu einer regierungsunabhängigen objektiven Nachrichtengebung und argumentativen Kommentierung beschritten haben (ein Weg, auf dem die auf die Politik der SED verpflichteten Medien in der DDR nach dem Mauerfall folgten), breitet sich mit dem Aufkommen der Digitalisierung und der Möglichkeit für jedermann, seine persönlichen Meinungsäusserungen ohne Rücksicht auf die ethischen Kodizes der professionellen Medien zu publizieren, eine mit Vitriol getränkte Melange von Hate Speech und Verschwörungstheorien aus, die an die Situation der Weimarer Republik erinnert. Dort vergiftete eine Hetzpresse das Klima der Auseinandersetzungen und trug damit zur Spaltung der Gesellschaft bei.

Man kann viele Mutmassungen anstellen, wie es in der Bundesrepublik zu einer ähnlichen Situation kommen konnte. Aber eine Verfassungsfrage ist das nicht. Beide deutschen Verfassungen – von 1919 und 1949 – garantierten die Meinungsfreiheit, aber beide konnten und können nicht garantieren, dass die Meinungsfreiheit verantwortlich genutzt wird. Mediale Selbstverpflichtungen, Pressekodices und selbst Strafgesetze lassen sich nicht effektiv auf individuelle Meinungsäusserungen anwenden, die es an Reichweite mit den klassischen Medien leicht aufnehmen können.

Das Gesetz kapituliert vor der Flut individueller Gesetzesverstöße. Versuche, europäische Regelwerke für internationale Portale verbindlich zu machen samt der Verpflichtung, ihre Inhalte vor der Publikation auf Wahrheitsgehalt und Wahrung von Persönlichkeitsrechten zu überprüfen, sind bisher gescheitert. Bislang hat sich das ökonomische Interesse an möglichst viel traffic gegenüber ethischem Handeln behauptet.

“Das Netz ist nur ein Spiegel der Realität”

Eine Frage bleibt, warum in unserer vermeintlich gefestigten Demokratie das Vertrauen in die Unabhängigkeit der klassischen Medien in Frage gestellt und jede für den eigenen Horizont nicht passgerechte Information als Fake news bezeichnet wird. Offen bleibt auch, warum in der digitalen Welt Respektlosigkeit und Unflätigkeit gegenüber Politikern, Journalisten und jedermann üblich geworden ist. Das Netz ist nur ein Spiegel der Realität. Mangelnder Respekt gegenüber Politikern kann eine, aber auch nur eine Ursache in der Respektlosigkeit haben, mit der Politiker sich selber im öffentlichen Meinungsstreit begegnen. Misstrauen gegenüber den Medien mag entstanden sein, weil Journalisten ihre Relevanzkriterien für die Berichterstattung zu lange fern der Interessen und Bedürfnisse der Leser festlegten.

Die Kernursache für den rhetorischen und moralischen Vandalismus im Netz aber liegt in einer Gesellschaft, in der Regeln des Umgangs miteinander nicht mehr als Garantien, sondern als Einschränkungen individueller Freiheit verstanden werden. Und insoweit ist es dann doch eine Verfassungsfrage. In Artikel 3 Absatz 2 heisst es: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ Und nicht: „Die Freiheit des Bürgers besteht darin, andere jederzeit zu verletzen.“ Wie diesen Entwicklungen entgegengewirkt werden kann, ist ein dauerhaftes Debattenthema nicht nur für Schulen und Migranten-Unterweisungen – sondern für die ganze Gesellschaft und für die Gespäche auf Ihrem Wartburgfest.


Ernst Elitz ist renommierter Journalist und anerkannter Hochschullehrer. Als Gründungsintendant des Deutschlandradios bestimmte er bis 2009 die politische Debatte maßgeblich mit. Seit März 2017 ist er Ombudsmann bei der BILD. (Foto: Jens Oellermann für BILD)

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