Büste von Paul Tillich – Gelehrter von Weltruf und Mitglied im Wingolf

Paul Tillich – Gelehrter von Weltruf

„Ich bin kein ausgeklügelt Buch / ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch.“ Dieser Vers Conrad Ferdinand Meyers, ursprünglich auf Ulrich von Hutten gemünzt, könnte auch über Tillichs Leben stehen.

Es hatte Licht- und Schattenseiten. Auch sein wissenschaftliches Werk wird von jüngeren Theologen zum Teil kritisch gelesen. Dennoch ist sein hoher Rang unbestritten. Paul Tillich war ein Gelehrter von Weltruf. Wer in seine Gedankenwelt eindringen will, muss aber nicht unbedingt dickleibige Werke durcharbeiten. Sie ist auch in mehreren Taschenbüchern enthalten, die für jedermann bei einigermaßen gutem Willen lesbar sind.

Der Beitrag stammt von P. Riegelmeyer (Mst 54, E 55, H 02) und erschien ursprünglich in den Wingolfsblättern, der Zeitschrift des Wingolfsbundes.

Die Berliner Zeit

Paul Johannes Tillich (Be 1904, T 1905, H 1905) wurde am 20. August 1886 in Starzeddel bei Guben in der Neumark (heute polnisch) geboren. Er wuchs im elterlichen Pfarrhaus als Erstgeborener auf, ihm folgten noch zwei Schwestern. Auch sein Vater Johannes Tillich war Wingolfit (Be 1875, T 1876). Nach einer Laufbahn in der Provinz gehörte er in Berlin als Oberkonsistorialrat und Pfarrer an der (im Zweiten Weltkrieg zerstörten) Bethlehemskirche zu den Spitzen des kirchlichen Lebens.

Im Sommer 1904 legte Paul Tillich am Friedrich-Wilhelms-Gymnasium in Berlin das Abitur ab. Er entschloss sich zum Studium der Theologie. Auf seinem Reifezeugnis steht die Bemerkung: „Interessiert sich für Philosophie.“ Damit waren die Weichen für sein künftiges wissenschaftliches Leben gestellt. Das Wintersemester 04/05, noch zu Hause verbracht, diente mehr dem Eingewöhnen.

Immerhin wurde Paul Tillich sofort im Berliner Wingolf aktiv. Dabei mag das Vorbild des sehr dominanten Vaters mitgeholfen haben. Im Wingolf machte er die Bekanntschaft von Hermann Schafft (H 1903, Be 1904, Bo 1913), der sein lebenslanger Freund werden sollte – und als solcher auch „Helfer und Führer“, wie Tillich selbst bekannte.

Wingolfit in Tübingen und in Halle

Tillichs zweite Universitätsstadt war Tübingen. Ein ehemaliger Conaktiver schrieb über ihn: „In meinem Tübinger Semester tauchte als Confux ein schmaler, bleicher Berliner auf (…) Er ging meist in tiefen Gedanken, etwas kurzsichtig und linkisch seines Weges (…) Es hieß, er habe schon als Gymnasiast Kants ‘Kritik der reinen Vernunft’ durchgearbeitet und machte ganz den Eindruck eines weltfremden Studierstubenmenschen. Das alles genügte, dass ich mich wenig mit dem blassen Jünger der Philosophie, der nicht reiten und fechten konnte, befasste.“ Das sollte sich allerdings rasch ändern! Der so urteilte, war Cph. Alfred Fritz (T 1904, H 1905, Ft 1925), der Tillichs enger Freund wurde und später dessen Schwester heiratete.

Paul Tillich setzte sein Studium und auch seine Aktivität in Halle fort. Die Hallenser Semester wurden entscheidend für seine wingolfitische Laufbahn und auch für seine theologische Entwicklung. 1907 wurde er zum Erstchargierten gewählt – ein erstaunlicher Vertrauensbeweis innerhalb einer Aktivitas von rund 80 (!) Köpfen, in der – im Unterschied zu heute – ein Überschuss an qualifizierten Kandidaten zur Verfügung stand. Mit Feuereifer stürzte er sich in die damals über viele Jahre hinweg im Bunde geführten Auseinandersetzungen um das Prinzip. Ein Streitpunkt war das Keuschheitsprinzip, das in Tillich einen kämpferischen Befürworter fand. Dies mutet einigermaßen absurd an, wenn man bedenkt, dass Tillich in den Zwanzigerjahren einen ausgesprochen lockeren Kurs in Sachen Keuschheit steuerte!

Studium und erste Berufsjahre

Über den Bundespflichten vernachlässigte Paul Tillich in Halle freilich das Studium nicht. Der unumstrittene Stern unter seinen Lehrern war der Dogmatiker und Neutestamentler Martin Kähler (H 1855). Die Hörsäle, in denen dieser las, waren stets bis auf den letzten Platz gefüllt. Tillich spricht in seinen Erinnerungen von dem „scharf geschnittenen Gelehrtenkopf, umrahmt von der ehrwürdigen … Künstlermähne“. Auch der Hallenser Wingolf, um den er sich viele Jahre gründlich kümmerte, brachte Kähler große Verehrung entgegen – er hieß allgemein das „Gewissen des Wingolfs“.

Nach Promotion in Breslau 1910 und Erwerb des Lizentiats (Halle 1911) wurde Tillich im August 1912 in der Matthäuskirche in Berlin zum Pastor ordiniert. 1912 bis 1914 war er Hilfsprediger im Arbeiterviertel Moabit. Hier begann er mit der Arbeit an seiner Habilitationsschrift über den Begriff des Übernatürlichen vor Schleiermacher; sie wurde 1916 fertiggestellt.

Erfahrungen im Krieg und in der Weimarer Republik

Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete sich Tillich, wie so viele von der gewaltigen Welle der nationalen Begeisterung mitgerissen, freiwillig zum Militär. Bis 1918 war er Feldprediger an der Westfront. Für seinen vor Verdun bewiesenen Mut wurde er mit dem Eisernen Kreuz erster Klasse ausgezeichnet. Insgesamt jedoch hat ihn der Krieg gewaltig ernüchtert. Er begrüßte die Revolution von 1918 und die Weimarer Republik und war Gründungsmitglied der Berliner Gruppe
religiöser Sozialisten.

Von 1919 bis 1924 war Tillich Privatdozent an der Berliner Universität. Als Professor für Systematische Theologie in Marburg wurde er vom Denken seiner Kollegen Rudolf Otto und Martin Heidegger stark beeinflusst. 1925 bis 1929 wirkte Tillich als Professor für Philosophie und Religionswissenschaft an der TH Dresden. 1926 erschien sein erster großer Publikumserfolg „Die religiöse Lage der Gegenwart“. An der Universität Leipzig las er 1927 bis 1929 zudem Systematische Theologie.

Im Konflikt mit dem Nationalsozialismus

1929 folgte Tillich einem Ruf an die Universität Frankfurt/Main und übernahm als Nachfolger von Max Scheler eine Professur für Philosophie und Soziologie. Hier erreichte seine Kontroverse mit dem Nationalsozialismus ihren Höhepunkt, vor allem durch seine Kontakte zu jüdischen Studenten und Kollegen, etwa zu Max Horkheimer oder zu Theodor W. Adorno, der sich bei ihm habilitierte.

In seinem Werk „Die sozialistische Entscheidung“ von 1932 differenzierte Tillich zwischen Religiösem Sozialismus, dogmatischem Marxismus und romantischem wie revolutionärem Konservatismus. Nach dieser Vorgeschichte war es kein Wunder, dass er schon am 13. April 1933 vom Amt suspendiert und noch vor Ende des Jahres endgültig entlassen wurde. Das Buch fiel der landesweit organisierten Verbrennung missliebiger Schriften zum Opfer. Tillich hat die gespenstische Szene am 10. Mai 1933 in Frankfurt selbst beobachtet.

Danach hatte er in Deutschland keine Chance zu unabhängiger Arbeit mehr, er war sogar akut gefährdet. Glücklicherweise erkannten das auch andere, unter ihnen der prominente amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr (1892-1971), der Tillichs Theologie kannte und durch dessen Vermittlung Tillich nach der Emigration mit seiner Familie am Union Theological Seminary in New York unterkam. Später erhielt Tillich dort einen Lehrstuhl für Philosophie und Systematische Theologie.

Im amerikanischen Exil

Die Zeit des Eingewöhnens war nicht leicht, zumal Tillich erst Englisch lernen musste und ihm die Übersetzung seiner eigenwilligen Fachterminologie ins Englische große Mühe bereitete.

Später wurde er Professor in Harvard (1955-1962) – sein Ritterschlag in der US-amerikanischen Bildungswelt. In seinen letzten Lebensjahren lehrte er an der Divinity School der Universität Chicago. Die Kontakte nach Europa und Deutschland hielt er während der Hitlerzeit aufrecht. Er legte Wert auf die Feststellung, keine Zeile geschrieben zu haben, die Deutschland schaden könnte. Trotz häufiger Reisen in das Deutschland der Nachkriegszeit, beginnend schon 1948, kam eine dauerhafte Rückkehr in die alte Heimat für ihn offenbar nicht in Frage.

In Amerika wurde Tillich durch seine Vorlesungen, Bücher, Predigten und rege Vortragstätigkeit schnell bekannt. Seine eigene Erfahrung vom Leben auf der Grenze zwischen Glauben und Zweifel, Kirche und Gesellschaft, Heimat und Fremde schilderte er in „Auf der Grenze“ (1936, und seine Bejahung eines Sinns des Daseins auch angesichts des Nichtseins stellte er in „Der Mut zum Sein“ (1952, die dt. Übersetzung folgte schon 1953) dar.

Ein reiches Lebenswerk

Tillich erhielt zahlreiche internationale Auszeichnungen, u. a. den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1962). Die Laudatio hielt zu diesem Anlass Bischof Otto Dibelius. Reisen in den Nahen und den Fernen Osten und sein Buch „Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen“ (deutsch 1964) zeigen die Richtung seiner letzten Lebensjahre. Paul Tillich starb mitten aus der Arbeit heraus an den Folgen eines Herzinfarkts am 22. Oktober 1965 in Chicago. Seine sterblichen Überreste wurden in dem nach ihm benannten Park in New Harmony, Indiana, beigesetzt.

Tillichs Lebenswerk wurde aus diesem Anlass in den Wingolfsblättern von mehreren Autoren angemessen gewürdigt. Auch seine Werke wurden jeweils ausführlich rezensiert. Das bewegendste Denkmal hat ihm sein Leibfux, der Mediziner Heinrich Meinhof (H 1907, Be 1909), gesetzt, der seine Erinnerungen aus fast sechzig Jahren der Gemeinsamkeit in sehr persönlicher Weise zusammenfasste.

Vom Befragten weniger geschätzt war das Auftauchen von Hallenser Wingolfsreminiszenzen in Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“, die der Dichter in den USA brieflich aus Tillich herausgefragt hatte, freilich ohne zu verraten, wofür er sie benutzen wollte. In dem bewussten Brief steht auch der vielzitierte Satz: „Die schönste Zeit meines Lebens war, als ich x im Hallenser Wingolf war!“

Karl Barth, Rudolf Bultmann und Paul Tillich beherrschten als Dreigestirn die deutschsprachige evangelische Theologie des 20. Jahrhunderts. Tillichs Thema hieß: „Gott ist der Name für das, was den Menschen unmittelbar angeht.“ Darum konnte er sagen: „Wirklicher Atheismus ist keine menschliche Möglichkeit; denn Gott ist dem Menschen näher als der Mensch sich selbst.“ Jesus Christus ist und bringt das „Neue Sein“, das darin besteht, dass der Mensch nicht mehr von Gott entfremdet ist, sondern mit ihm und damit mit sich selbst und der Welt eins ist. Der Kern von Tillichs vielberufener Korrelationsmethode bedeutet, dass der Mensch hier wirklich als mündig-autonomer Partner Gottes und damit als Mensch ernst genommen wird. Uns, die wir als junge und alte Bundesbrüder in der Gemeinschaft des Wingolfs zusammenleben wollen, gilt die Herausforderung, uns dieser Anrede Gottes täglich neu zu stellen.

Bild: Richard Keeling, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons